Vor dem zweiten Schlag

Der Prozess gegen die russische Menschenrechtsorganisation Memorial geht in die nächste Runde

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 4 Min.
Der russische Journalist Nikolai Swanidse kämpft für den Fortbestand von Memorial.
Der russische Journalist Nikolai Swanidse kämpft für den Fortbestand von Memorial.

Zweieinhalb Wochen Atempause: Als der Prozess zur Auflösung des Menschenrechtszentrums und des internationalen Dachverbands von Memorial auf Mitte Dezember vertagt wurde, atmeten einige Beobachter erleichtert auf – und blickten mit bangen Hoffnungen auf den Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten. Vielleicht könne man in dem Gremium, das den russischen Staatschef über den Zustand der Rechte und Freiheiten der Bürger informiert, auf Wladimir Putin einwirken und eine Einstellung des Verfahrens erwirken? Das Schicksal von Memorial – Russlands ältester Menschenrechtsorganisation – entscheide sich eh nicht vor Gerichten, so die Vermutung.

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Dementsprechend groß waren die Erwartungen, als der Rat am vergangen Donnerstag per Videoschalte zusammenkam und der Historiker und Journalist Nikolai Swanidse einen emotionalen Appell an Putin richtete: »Memorial ist der wichtigste Hüter der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen in der Sowjetunion«, beschwor das 66-jährige Ratsmitglied eindringlich den Präsidenten. »Darum bitte ich Sie: Nehmen Sie den Prozess unter Kontrolle!« Als Staatschef verfüge Putin über das Recht, die Forderungen der Staatsanwaltschaft nach einer Auflösung der beiden Tochterorganisation von Memorial zurückzuziehen, so Swanidse.

Putin nahm die Mahnung mit konzentrierter Miene entgegen und zeigte keine sichtbare Reaktion. »Ich habe mich natürlich auch damit beschäftigt, was in den Massenmedien zu Memorial stand«, antwortete der Präsident dann und griff nach einem Stapel Papiere, der vor ihm auf dem Tisch bereit lag. Er habe ein Dossier über den Inhalt der Verhandlungen in Auftrag gegeben, erklärte der Kremlchef, während er durch die Dokumente blätterte. Aus den zusammengestellten Unterlagen gehe Überraschendes hervor.

So verteidige das internationale Menschenrechtszentrum von Memorial beispielsweise radikale Organisationen wie die islamistischen Hizb Ut-Tahrir und Tablighi Jamaat. »Diese Organisation sind bei uns in die Liste terroristischer und extremistischer Organisationen eingetragen«, so Putin. »Das ist eine Frage, die noch näherer Klärung bedarf!« Er hoffe im Übrigen auf einen fairen Prozess und habe die Tätigkeit von Memorial immer geschätzt. Gleichwohl gebe es auch Kritik am internationalen Memorial-Dachverband. Nachforschungen »israelischer Spezialisten« zufolge, führe dieser in seiner Datenbank von Opfern politischer Repressionen in der Sowjetunion auch mehrere Personen, die sich im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Nationalsozialisten an der Erschießung von Juden beteiligt hätten. Solche Fehler seien nicht zulässig. »Memorial muss natürlich in vollem Umfang den humanitären Zielen entsprechen, die sich aus seiner Tätigkeit ableiten«, forderte Putin. Zur eventuellen Schließung von Memorail könne er derzeit nicht mehr sagen und müsse mehr Informationen einholen. Im Übrigen laufe der Prozess ja noch.

Dass der Vorwurf der in Memorials Opferdatenbank aufgenommenen Nazi-Kollaborateure nicht ganz neu ist, dürfte Putin dabei bewusst gewesen sein. Im August hatte der lettisch-israelische Historiker Aaron Schejer einen empörten Facebook-Post unter der Überschrift »Schande Memorial« veröffentlicht. In diesem berichtete der Mitarbeiter der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vashem von drei lettischen Männern, die sich 1941 in Schejers Heimatstadt an Pogromen gegen Juden beteiligt hätten. Die Nachricht in den sozialen Medien wurde augenblicklich vom russischen Staatsfernsehen aufgegriffen. Der Vorfall zeige, wie Memorial versuche, die Geschichte umzuschreiben und dabei auch nicht vor Fälschungen zurückschrecke, so der Tenor.

Memorial stritt den Fehlgriff nicht ab. Es handele sich um einen unbeabsichtigten Fehler, wie er bei der Bearbeitung großer Archive vorkommen könne. Die Namen seien indes längst aus der Opfer-Datenbank gelöscht, erklärte Jan Ratschinski, Vorsitzender des Memorialdachverbandes in dieser Woche der Zeitung »Moskowskij Komsomolez«.
Auch den Vorwurf der Verteidigung von Terroristen wies Ratschinksi zurück. Ja, Memorial übernehme auch kontroverse und fragwürdige Fälle. Die Einstufung als politische Gefangene bedeute aber nicht, dass die Organisation automatisch die Ansichten ihrer Klienten teile. »Es gibt Menschen auf dieser Liste, denen unsere Ansichten zutiefst fremd sind«, so Ratschinski. »Oft stehen sie diesen sogar feindselig entgegen.« Dies sei jedoch kein ausreichender Grund, um sie strafrechtlich zu verfolgen – solange sie nichts wirklich Kriminelles getan hätten. Dies sehe auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte so, welcher der Praxis von Memorial oft zugestimmt habe.

Ob Ratschinskis Argumente zum Präsidenten durchdringen, bleibt unter russischen Menschenrechtlern umstritten. Weitgehend einig ist man sich dagegen in einer anderen Frage: Die vom Präsidenten zitierten Hintergrundmaterialien und detaillierten Vorwürfe deuteten auf einen lange und gründlich geplanten Angriff gegen Memorial. »Nach allen Regeln einer Spezialoperation«, schreibt der »Moskowskij Komsomolez«. »Es sollte klar sein, dass dies nur ein Vorwand ist«, fasste Alexej Wenediktow, Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskwy die von Putin vorgebrachten Argumente zusammen. »Um die Aktivitäten von Memorial einzuschränken oder zu verbieten.« Einzig der russische Präsident könne den immer mehr an Fahrt gewinnenden Prozess nun noch bremsen – wenn er denn den Willen dazu habe.

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