Moderner Totentanz

In »Vernichten«, seinem neuen Roman, prophezeit Michel Houellebecq den Untergang der westlichen Welt

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Der neue Houellebecq heißt »Vernichten« und ist mit 622 Seiten deutlich der umfänglichste seiner Romane. »Die Möglichkeit einer Insel« folgt abgeschlagen mit 448 Seiten auf Platz zwei. Im Ranking der Seitenzahlen liegt jedoch unerwartet ein Buch aus einem ganz anderen Genre vorn, eines, dem man sonst wenig Seiten zutraut: Houellebecqs »Gesammelte Gedichte« mit 784 Seiten!

Diese Seitenzählerei klingt sehr äußerlich, geradezu schnöde, aber sie passt zu der Art, wie »Vernichten« auf den Markt geworfen wurde: in rekordverdächtigem Tempo. Romane sind doch keine Flugschriften, oder? Wenn man sich um ihrer Aktualität wegen mit dem Druck beeilt, heißt das dann nicht, dass man fürchtet, die Ware könnte schnell altern?

Als instinktsicherer Provokateur begann Michel Houellebecq vor einem viertel Jahrhundert mit »Ausweitung der Kampfzone« von sich reden zu machen, nun tritt er offenbar endgültig in die klassische Phase seines Schaffens ein. Haben wir mit »Vernichten« Anteil an einer Art »Ausweitung der Komfortzone«, also an der Produktion vorhersehbarer Bestseller des Mittsechzigers?

Heute nun erscheint »Vernichten« in Frankreich und Deutschland gleichzeitig - auf Deutsch bei DuMont in der Übersetzung von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek, die sich die eilige Aufgabe geteilt haben. Aber ist es denn wirklich so eilig, was hier in aller biedermeierlicher Breite daherkommt? Der Untergangsbefund, den der Autor der westlichen Welt stellt, ist ja keineswegs neu. Aber es stimmt schon: Einen neuen Houellebecq-Roman möchte man eher früher als später in Händen halten und sein letzter, »Serotonin«, ist bereits vor fast drei Jahren erschienen.

Dennoch ist zu befürchten, dass die Plötzlichkeit, mit der »Vernichten« nun über uns kommt, falsche Erwartungen weckt. Sensationen und wundersame Rettungen, um es gleich zu sagen, bleiben aus. Doch in ihren Erwartungen enttäuschte Leser sind schlechte Leser - das zu möglichen Nebenwirkungen einer aggressiven PR-Strategie, zumal einer, die fatal an die von Houellebecq selbst so beharrlich kritisierte »Welt als Supermarkt« erinnert.

Worum geht es nun in diesem neuen Roman mit dem martialischen Titel? Um nicht weniger als das Ende im individuellen wie gattungsgeschichtlichen Sinne. Apokalypse in allen Bereichen. Ein Vater (Ex-Geheimdienstler), zwei Brüder und eine Schwester, die durch eine schwere Krise gehen und sich dabei auf unerwartete Weise wieder näherkommen. Am Ende müssen zwei von ihnen sterben, der Vater, nach einem Schlaganfall im Wachkoma, aber lebt - wenn auch auf stark reduzierte Weise. Vor den Vätern sterben die Söhne, nun auch bei Houellebecq? Allerdings, die Widerstandskräfte der Jüngeren scheinen geringer als die der Älteren.

Im Mittelpunkt steht Paul, persönlicher Mitarbeiter von Bruno, dem Wirtschaftsminister mit vagen Aussichten aufs Präsidentenamt. Seit Jahren lebt Paul in tiefer Entfremdung von seiner Frau (ebenfalls Beamtin im gehobenen Dienst), doch der Beinahe-Tod des Vaters schafft neue emotionale Bindungen. Ein Hoffnungsfunken mitten in der Agonie. Bereits im ersten Satz von »Vernichten« zeigt sich jene Atmosphäre, die in den kommenden sechshundert Seiten nie gänzlich weichen wird: »An manchen Tagen Ende November oder Anfang Dezember fühlt man sich, besonders als Alleinstehender, wie im Todestrakt.«

Beim Lesen fragt man sich natürlich, ob »Vernichten« nun wirklich der große Wurf ist, wie man uns suggeriert. Die Erwartungsfalle ist von den PR-Abteilungen aufgestellt worden und forciert sofort kritische Abwehrreflexe, auch übertriebene. Doch es bleibt eine doppeldeutige Lektüre, wie es auch die Romane Balzacs sind, in denen Kunst und Kolportage ständig den Platz zu wechseln scheinen. Erzählerische Raffinesse hier und vorhersehbarer Effekt dort, Abgrund und Abgetanes dicht beieinander.

»Vernichten« scheint bestenfalls eine Wunderkammer, schlimmstenfalls ein Füllhorn aller zeitgeistigen Stichworte. Der Niedergang einer Familie korrespondiert mit der Auflösung staatlicher Strukturen. Die immer anwesenden Geheimdienste fallen angesichts raffiniert geplanter Terroranschläge von einem ganz neuen Ausmaß in eine Art Schockstarre. Die digitale Welt kennt Houellebecq als IT-Experte der ersten Stunde, lange bevor er als Autor erfolgreich wurde. Nun beginnt sie die reale Welt zu verschlingen. Eingestreute Albtraumszenerien, und die weggesperrte Angst wächst im Verborgenen - hier erweist sich Houellebecq wiederum als Meister des geschliffenen Aphorismus.

Am Ende mündet »Vernichten« in eine groß angelegte Eros-Thanatos-Symbiose: Sex und Krebs, Sex trotz Krebs, leider nicht Sex statt Krebs. Das nüchterne Protokoll einer tödlichen Krankheit trifft auf eine romantische Weltabschiedsszenerie. Daneben ist von Pflegenotstand und Zynismus der Institutionen die Rede, von PR-Agenturen, die Politik betreiben, indem sie Kandidaten coachen, als ginge es bei der Präsidentschaftswahl um den Hauptgewinn in einer Quizshow (geht es ja vielleicht auch).

Zuviel für ein einziges Buch? Da sind wir wieder beim Umfang. Auf über sechshundert Seiten versammelt sich einiges, was man hätte weglassen sollen - allzu folgerichtig ablaufende Familientreffen etwa, oder die schwer zu glaubenden Oralsexerfüllungen eines Sterbenden. Wo bleibt hier der philosophische Esprit, der böse Witz, mit dem uns Houellebecq sonst gern überfällt, so wie er uns mit dem Erzromantiker Joris-Karl Huysmans in »Unterwerfung« traktierte?

Doch, er ist noch da, aber spärlicher gesät als in seinen früheren Romanen, wie Dornen, versteckt unter unzähligen Blättern am Boden. Aber wehe, man tritt unvorbereitet hinein, dann schmerzt es um so mehr! Verpackt in Beiläufigkeiten kommt öffentlich Beschwiegenes zu Wort: »Es gab, das war zumindest Brunos Überzeugung, nur noch zwei Automobilmärkte, low cost und Luxusklasse, so wie es auch ... nur noch zwei Gesellschaftsschichten gab, die Reichen und die Armen, die Mittelschicht hatte sich in Luft aufgelöst, und der Mittelklassewagen würde ihr bald folgen.« Diese Art indirekter Gesellschaftsanalyse ist Houellebecqs Stärke.

Im Buch werden zwei Hauptfeinde Houellebecqs mit kaltem Blick seziert: die »Politik-Berater« und die Journalisten - letztere sieht er, zumal im Printbereich, zwar zunehmend der Bedeutungslosigkeit entgegen gehen, was aber nicht heiße, dass sie nicht immer noch viel Schaden anrichten können. Unliebsame Existenzen zu vernichten, das sei dieser Aufregungserzeuger, letzter boshafter Versuch, inmitten der eigenen Auflösung noch Bedeutung zu erlangen. Das klingt nach Revanchefoul eines sich von der Kritik (in Frankreich noch mehr als in Deutschland) permanent ungerecht behandelt fühlenden Autors, aber auch nach einer Fortschreibung jenes Medien-Sittengemäldes, das bereits Balzac in »Verlorene Illusionen« skizzierte.

Wo Houellebecq Europa verortet, erfahren wir auf Seite 507, ganz und gar unverblümt aus dem Munde von Bruno, dem deprimierten Wirtschaftsminister, aus dem es herausbricht: »Selbst sehr autoritäre und entschlossene Führungspersönlichkeiten wie etwa General de Gaulle seien nicht in der Lage gewesen, sich dem Lauf der Geschichte zu widersetzen, und ganz Europa sei zu einer entlegenen, alternden, depressiven und einigermaßen lächerlichen Provinz der Vereinigten Staaten von Amerika geworden.« So seien die westlichen Demokratien unrettbar in einen Zustand der Dekadenz geraten.

Wir begleiten Paul in jene Krebskliniken, die sich als Inbegriff moderner Medizin verstehen. Aber dem sich anbahnenden Tod stehen sie hilflos gegenüber. Wer stirbt schon noch seinen eigenen Tod, fragte Rainer Maria Rilke in den »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«, und Houellebecq trägt die Frage weiter ins Zeitalter der Apparatemedizin, wo Hightech auf Kostenkalkulation trifft.

Alles ein Spiel um Macht, hier die Regierenden, dort die Underdogs, die das herrschende System stören, oder gar zerstören wollen? Das ist die eine Ebene von »Vernichten«, die andere ist das sich herauskristallisierende Martyrium Pauls, aus dem ihn keiner erlösen kann, erst ganz am Ende vielleicht die Morphiumpumpe, die ihn aber - wie er wohl weiß - um den Erkenntnisschmerz betrügen würde. Was ein Passionsweg überhaupt ist, erfährt Paul erst, als er ihn zu gehen gezwungen ist.

Überhaupt scheint das Personal von »Vernichten« auf groteske Weise auferstanden aus demselben Kuriositätenkabinett, das schon Thomas Mann in seinem »Zauberberg« beschrieb: Die todkranken Angehörigen der Oberschicht seiner Zeit, die bei viel zu üppigen Mahlzeiten und abwegigen Freizeitaktivitäten ihre ausweglose Situation zu ignorieren versuchten. Ein moderner Totentanz.

Wem das immer noch nicht genug Houellebecq ist, der greife zu einem ebenso umfangreichen (und sehr lesenswerten) Sammelband über ihn, den Agathe Novak-Lechevalier soeben bei DuMont herausgegeben hat. Darin findet sich alles, was man über Houellebecq aus unterschiedlichsten Perspektiven schreiben kann, von Iggy Pop, Bernard-Henri Lévy, Salman Rushdie bis zu Michel Onfray und Yasmina Reza. Ein Bild mit vielen Brüchen.

Michel Houellebecq, Vernichten. A. d. Franz. v. Stephan Kleiner u. Bernd Wilczek. Dumont, 622 S., geb., 28 €.

Agathe Novak-Lechevalier (Hrsg.), Michel Houellebecq. A. d. Franz. v. Stephan Kleiner. Dumont, 592 S., br., 44 €.

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