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- Kinofilm "Niemand ist bei den Kälbern"
Weiter Himmel, bedrückende Enge
»Niemand ist bei den Kälbern« erzählt vom Leben auf dem Land und dem Versuch, diesem Leben zu entkommen
Viele Verleihe sagen derzeit die Starttermine ihrer Filme wegen der ungewissen Corona-Lage reihenweise ab. In Ermangelung der sonst üblichen reichhaltigen Auswahl steckt hierin die Chance für eine kleinere Produktion, von einem größeren Publikum wahrgenommen zu werden, was diesem beachtenswerten Heimatfilm der anderen Art zu wünschen wäre.
Christin ist 24 und lebt bei ihrem Freund auf dem Hof von dessen Eltern, irgendwo auf dem flachen Land in der Einöde Mecklenburgs. Glanzpunkte gibt es nur wenige in ihrem Leben, was eine deprimierende Feststellung ist für die erlebnishungrige junge Frau. Ihr Leben spielt sich zwischen der ungeliebten Arbeit im Kuhstall, dem nicht mehr geliebten Freund und dem von seiner Frau verlassenen und nur noch unter Alkohol lebensfähigen Vater ab.
Was für ein Kontrast: der weite Himmel über Mecklenburg, ein Blick bis zum Horizont; und gleichzeitig die bedrückende Enge des Dorflebens, die immer gleichen Gesichter, Sprach-, Ausweg- und Perspektivlosigkeit. Christin möchte bloß weg von hier, wie zahllose Mädchen und junge Frauen vor ihr. Doch tausend unsichtbare Fäden, die sich nicht so einfach kappen lassen, weil menschliche Bindungen daran hängen, halten sie in ihrem Leben fest. Sie möchte sich so gern losreißen und kommt doch nicht vom Fleck. Caro, ihre beste Freundin, hat›s besser gemacht: Abschiedszettel auf den Küchentisch und mit einem Fremden durchgebrannt. In ihrer Not beginnt Christin eine Affäre mit einem viel älteren Windkrafttechniker, der regelmäßig in der Gegend zu tun hat. Aber erlösen kann der sie auch nicht. Eine Entscheidung muss sie schon selbst treffen.
Die Abwanderung junger Frauen aus dem Osten und dort vor allem aus den ländlichen Regionen ist eine inzwischen jahrzehntelange Tatsache und lässt sich gut mit Zahlen belegen. »Provinz voller Männer«, titelte die »Zeit« vor einigen Jahren. Die Ursachen dafür sind vielfältig, gewiss spielen aber die patriarchalen Strukturen mit ihren fest tradierten Rollenmustern, die sich auf dem Land noch fast in Reinform erhalten haben, eine große Rolle.
Warum sollten sich Frauen, die ja auch auf dem Land nicht hinterm Mond leben und mitbekommen, wie sich gesellschaftliche Normen verändern, dem aussetzen? Sie wissen um ihre Chancen und nutzen sie. Zurück bleiben zornige junge Männer, die allein mit sich und dem Alkohol bleiben. In vielen klug beobachteten Szenen des Films sieht und fühlt man die unterdrückte Wut und latente Gewaltbereitschaft der um Liebe und Familie Betrogenen und sexuell Frustrierten. Es braucht wohl keine soziologischen Studien (die es gleichwohl gibt), um zu ahnen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Männerüberschuss und dem Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen. Hinzu kommt, dass die existenziellen Brüche der Nachwendezeit und die Umwälzungen in der Landwirtschaft ihre Spuren hinterlassen haben. Kämpfen müssen die Bauern zwar überall; anders als im Westen fehlt hier jedoch die dicke Dämmschicht des Wohlstands, die die Widrigkeiten des modernen Landlebens abfedern könnte.
In »Niemand ist bei den Kälbern« geht es allerdings zuvorderst um Christin und ihre Unfähigkeit, eine Entscheidung zu treffen. Dabei will sie eigentlich gar nicht viel. »Wovon träumst‹n du?«, fragt sie der Experte für Windkraft. »Irgendwas in der Stadt, ›ne eigene Wohnung...«, fällt Christin lediglich ein.
An dieser Stelle muss unbedingt von Saskia Rosendahl, die die Rolle der Christin spielt, gesprochen werden. Wer sie eben noch als Cornelia Battenberg in Dominik Grafs 20er-Jahre-Epos »Fabian oder der Gang vor die Hunde« an der Seite Albrecht Schuchs und Tom Schillings gesehen hat, wird sie in »Niemand ist bei den Kälbern« als sehr gegenwärtiges Mädchen vom Land kaum wiedererkennen.
Nun ist diese enorme Wandelbarkeit einerseits der Job jedes Schauspielers. Aber die Reife und Sicherheit, mit der die in Halle (Saale) geborene Rosendahl in die verschiedenen Rollen schlüpft, zeugt doch von erheblichem Talent, zumal sie nicht mal über eine klassische Schauspielausbildung verfügt. Dafür über die Souveränität und Ausdruckskraft, fast ohne Worte, allein mit Blicken und Gesten, den inneren Zwiespalt ihrer Figur zu verkörpern. Regisseurin Sabrina Sarabi sagte über sie im Interview, Rosendahl schaffe es, selbst die Langeweile interessant zu machen.
Sarabi selbst, die auch das Drehbuch nach dem gleichnamigen Debütroman von Alina Herbing schrieb, ist es ihrerseits gelungen, ein soziologisches Milieu absolut glaubwürdig zu erkunden, welches sie als weit weg in Kassel Geborene und Aufgewachsene kaum aus eigener Anschauung kennen kann. Statt sich hölzerne Drehbuchdialoge auszudenken, beließ sie den Schauspielern ihre lebendige Alltagssprache und den lakonischen Tonfall, mit dem im Norden die Dinge verhandelt werden, was die Intensität des Geschehens noch verstärkt und dem Film eine gehörige »Street Credibility« verleiht.
Vor zwanzig Jahren wäre Sarabis Film sicherlich unter dem Label »Berliner Schule« abgehandelt worden, jener Stilrichtung im deutschen Film, bei der es weniger um spektakuläre Geschichten, sondern um die Erforschung alltäglicher Phänomene, die Suche nach dem persönlichen Glück, mit meist offenem Ende, ging. Inzwischen hat sich jedoch längst eine neue Generation von Regisseuren an die kleinen großen Fragen herangewagt, die sich in keine dieser Schubladen stecken lässt. Alltagsstudien wie »Kokon« (2020, Regie: Leonie Krippendorff) über drei pubertierende Mädchen vom Kottbusser Tor oder Nora Fingscheidts enorm erfolgreiches Sozialdrama »Systemsprenger« (2019) und eben auch »Niemand ist bei den Kälbern« zeigen, wie relevantes deutsches Kino aussieht. Bei an die 150 einheimischen Filmen, die pro Jahr im Kino starten (vor Corona), sind sie jedoch leider die Ausnahme.
»Niemand ist bei den Kälbern«: Deutschland 2021. Regie und Drehbuch: Sabrina Sarabi. Mit: Saskia Rosendahl, Rick Okon, Enno Trebs, Godehard Giese. 116 Minuten. Start: 20. Januar.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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