Tadel für Wolodymyr Selenskyj

Reporter ohne Grenzen (ROG) ruft den ukrainischen Präsidenten zur Verteidigung der freien Berichterstattung in seinem Land auf

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 3 Min.

Wolodymyr Selenskyj soll die Pressefreiheit schützen und unabhängige Berichterstattung nicht einschränken. Dies fordert die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG): »Die Ukraine ist ohne Zweifel Ziel massiver Desinformationskampagnen aus Russland, in denen tendenziöse Berichte, bewusste Verzerrungen, ja sogar offene Falschmeldungen eingesetzt werden«, erklärt Christian Mihr, ROG-Geschäftsführer, in einer Presseerklärung vom Montag. »Dennoch müssen alle Maßnahmen, um sich gegen diese Desinformation zu verteidigen, demokratisch legitimiert und verhältnismäßig sein.«

Gegen diese Anforderung habe Selenskyj jedoch wiederholt verstoßen. So ließ der ukrainische Präsident – unter Umgehung von Parlament und Gerichten – mehrmals Medien verbieten, die der Kreml für Desinformationskampagnen nutzte, die in Russland produziert wurden oder als prorussisch galten. Dabei habe sich Selenskyj auf eigene Dekrete und Empfehlungen des von ihm eingesetzten Sicherheitsrates gestützt.

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Unter anderem entzog der Präsident im Februar 2021 den TV-Sendern Kanal 112, NewsOne und ZIK die Sendelizenz für fünf Jahre. Der Grund für den auch international kritisierten Schritt: angebliche russische Propaganda. Stichhaltige Belege blieb Selenskyj schuldig. Die Sender werden dem Oligarchen und Putin-Vertrauten Wiktor Medwetschuk zugerechnet, dessen prorussische Partei Oppositionsplattform in der Ostukraine populär ist. Im August desselben Jahres ließ der ukrainische Staatschef zudem die russischen Zeitungen »Wedomosti« und »Moskowski Komsomolez« sowie die oppositionelle ukrainische Nachrichtenseite strana.ua sperren. Auch das von Selenskyj im März 2021 angekündigte Zentrum für die Bekämpfung von Desinformation, welches Strategien gegen das russische Vorgehen entwickeln soll, wird von Reporter ohne Grenzen kritisch gesehen. Transparenz und demokratische Kontrolle der Institution seien fraglich: Das Zentrum gehöre zu dem Präsidenten unterstehenden Sicherheitsrat und sei der parlamentarischen Kontrolle entzogen.

Staatliche Stellen, ihnen nahestehende Geschäftsleute und das Büro des Präsidenten hätten zudem wiederholt Recherchen regierungskritischer Investigativjournalisten behindert.

Die Medienorganisation verweist außerdem auf erhebliche Gefahren, denen Journalisten ausgesetzt sind, die in der Ukraine kritisch über den Konflikt mit Russland berichten. Immer wieder komme es dabei zu Gewalt gegen missliebige Medienschaffende. Im Februar 2021 griffen Teilnehmende einer Demonstration der rechtsextremen Organisation »Prawyj Sektor« den Reporter Oleh Netschaj vor laufender Kamera an. Sein Kollege Oleksij Paltschunow wurde zusammengeschlagen. Im Juli 2020 floh die aus Russland stammende Journalistin Kateryna Sergazkowa nach Morddrohungen gegen ihre Familie aus der Ukraine. Zuvor hatte die Chefredakteurin des Nachrichtenportals Zaborona über mögliche Verbindungen ukrainischer Rechtsextremer zur Faktencheck-Initiative Stopfake recherchiert. Die Journalistin Ljubow Welitschko wurde nach einer Recherche über bei ukrainischen Politikern beliebte Telegramkanäle, die möglicherweise aus Russland gesteuert werden, massiv in sozialen Medien bedroht. Gewalt gegen Journalisten werde auch von korrupten Verwaltungen und Behörden ausgeübt. Selten würden die Drahtzieher der Vorfälle ermittelt und bestraft.

Äußerst gefährlich sei die Berichterstattung aus den sogenannten Volksrepubliken in der Ostukraine, schreibt Reporter ohne Grenzen. Aus den prorussischen Gebieten, die sich der Kontrolle Kiews entziehen, drängen nur selten verlässliche Nachrichten. Unabhängige Berichterstattung sei kaum möglich. Die Journalisten Stanislaw Asejew und Wladislaw Jessipenkow, welche in den Gebieten arbeiteten, berichten von Folter.

Problematisch sei auch die Eigentumsstruktur vieler ukrainischer Medienhäuser. Die meisten TV-Sender und Zeitungen befänden sich in der Hand von Oligarchen, welche diese als Instrument im Kampf um wirtschaftlichen und politischen Einfluss nutzten. Eine Vermischung bezahlter Inhalte und redaktioneller Berichte sei alltäglich. Der öffentliche Rundfunk leide an Unterfinanzierung und werde kaum eingeschaltet.

Insgesamt belegt die Ukraine in der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit Rang 97 von insgesamt 180 Staaten – vor den Nachbarn Russland (150) und Belarus (158).

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