Gegen die Ärmsten

In Deutschland wandern Menschen wegen Bagatelldelikten in den Knast. Warum? In seinem Buch »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich« wirft der Journalist Ronen Steinke den Gerichten Klassenjustiz vor

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 6 Min.

Irene von B. ist 76 Jahre alt und hat kurz vor Weihnachten bei Rossmann eine Packung Kerzen zum Preis von 4,99 geklaut - für ihren Adventskranz. Der hinzugerufene Polizist habe ihr die Kerzen gekauft, erzählt die Rentnerin vor Gericht. Denn dort landet sie trotz des geringen Schadens. Denn: Es ist nicht das erste Mal, dass Irene von B. gegen das Gesetz verstößt. In den vergangenen zehn Jahren hat sie acht Mal im Supermarkt Kleinigkeiten mitgehen lassen.

Die Rentnerin ist schwerhörig, die Verständigung vor Gericht fällt schwer. Ihr gesetzlicher Betreuer berichtet von einem Schlaganfall, seit dem sie halbseitig gelähmt sei, sowie von kognitiven Einschränkungen. Ist sie überhaupt in der Lage, zu verstehen, was hier passiert? Könnte ein Verteidiger ihr in dieser Situation helfen? Die Schilderungen des Autors und Journalisten Ronen Steinke werfen solche Fragen auf. Beantwortet aber werden sie nicht. Denn Irene von B. bekommt keinen Pflichtverteidiger.

Eine der Mythen über das deutsche Rechtssystem, mit denen Steinke in seinem Buch »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich« aufräumt, ist die Annahme, jede*r Angeklagte bekäme eine*n Strafverteidiger zur Seite gestellt. »Die Entscheidung, ob ein Angeklagter, der kein Geld hat, einen Strafverteidiger bekommt, trifft allein die Richterin, nicht etwa eine neutrale Instanz von außen, ein Sozialamt zum Beispiel«, schreibt Steinke. Nur bei besonders schweren Delikten gewähre der Staat das Recht auf eine*n Pflichtverteidigerin - in etwa zehn Prozent der Fälle. Dabei gehe der Staat finanziell in Vorleistung, hole sich das Geld aber später wieder, wenn die Beschuldigten zahlen können.

Steinke schildert viele solcher Fälle vor Gericht. Meist geht es um Menschen, die sich Kleinigkeiten zuschulden kommen ließen. Sie haben Äpfel geklaut, Brausepulver, Eiscreme, Wodka oder Parfum. Oft haben sie das schon häufiger gemacht. Sie haben kaum oder gar kein Geld zur Verfügung, sind drogenabhängig, leben auf der Straße oder beides. Kurz: Sie führen ein Leben, das von Mangel, Sucht und Armut geprägt ist. Demgegenüber steht ein Justizsystem, das sich in Ronen Steinkes Analyse als eines präsentiert, das in den eigenen Regeln gefangen ist - obwohl es viele Stellen bereits besser wüssten.

Der Staat sieht sich genötigt, bei Gesetzesverstößen zu handeln. Die Frage, die sich dabei in Steinkes Buch immer wieder stellt, lautet: Wem bringt das in solchen Fällen etwas, in denen Menschen durch Strafzahlungen oder Gefängnisaufenthalte immer tiefer in die Mühle aus Schulden und weiteren Gesetzesbrüchen geraten?

In Steinkes Beschreibungen präsentierten sich deutsche Gefängnisse als Spiegel einer Gesellschaft, in der die sozialen Unterschiede immer größer werden. »Die Menschen, die wegen Zahlungsunfähigkeit inhaftiert werden, kommen heute zu 40 Prozent aus der Obdachlosigkeit, doppelt so oft wie noch vor zwanzig Jahren, und zwei Drittel von ihnen sind abhängig von Alkohol oder Drogen«, schreibt er. Die Ersatzfreiheitsstrafen, die verhängt werden, wenn Geldstrafen-Schuldner*innen nicht zahlen, sei heute die häufigste Form der Freiheitsstrafe in Deutschland geworden. Es säßen etwa 7000 Menschen pro Jahr im Gefängnis, weil sie ihr erhöhtes Beförderungsentgelt nicht zahlen konnten.

Eine weitere Erkenntnis: »In Deutschland gibt es heute mehr Drogenabhängige, die in Gefängnissen sitzen, als Drogenabhängige, die sich in Therapieeinrichtungen befinden.« Unweigerlich stellt sich die Frage, warum es nicht andere, bessere Orte gibt, um Menschen wie ihnen zu helfen - und so auch zu verhindern, dass sie weitere Straftaten begehen.

Ronen Steinke ist selbst Jurist, hat im Völkerstrafrecht über Kriegsverbrechertribunale promoviert und arbeitet seit 2016 als Innenpolitik-Redakteur für Sicherheit und Recht bei der »Süddeutschen Zeitung«. Er hat Bücher über antisemitische Gewalt und Antisemitismus in der Sprache geschrieben. Nun widmet er sich einer Justiz, die er im Untertitel seines Buches als »neue Klassenjustiz« bezeichnet. Denn, so das Fazit: Arme Menschen haben es vor deutschen Gerichten schwerer als reiche.

Steinke eröffnet eine Fülle erhellender Einblicke in einen gesellschaftlichen Teilbereich, der häufig nicht mitgedacht wird, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht. Das Buch ist keine Abrechnung mit der Justiz, sondern eine engagierte Analyse, die Missstände offenbart und Lösungen vorschlägt.

Die komplexe Thematik arbeitet Steinke in einem klaren, lebendigen, journalistischen Stil anhand vieler eindrücklicher Beispiele auf. Was so prägnant und locker daherkommt, stützt sich auf ausführliche Literaturrecherchen, Interviews, Einblicke in den Alltag von Gefängnissen und Besuche von Verhandlungen. Als Belege für seine Argumentationen führt der Autor umfangreiche Quellen und Anmerkungen an. Das Buch schließt mit einer Liste von Veränderungsvorschlägen. Unter anderem fordert Steinke »Pflichtverteidiger für alle«, »faire Geldstrafen für Arme« und die Entkriminalisierung von Schwarzfahren.

Die Ungerechtigkeiten, die Steinke anprangert, entstehen seiner Analyse nach nur bedingt aus böser Absicht oder Ignoranz gegenüber Menschen in prekären Situationen. So schreibt er über das »Schnellgericht« am Tempelhofer Damm in Berlin, an dem innerhalb von wenigen Minuten Fälle wie Ladendiebstahl oder Schwarzfahren verhandelt werden - auch der von Irene von B.: »Es ist auch kein Ort des völligen Unverständnisses gegenüber Menschen in schwierigen Lebenslagen. Manchmal ergeht auch Gnade vor Recht.« Es ist kein unbarmherziges System, das Steinke beschreibt. Aber ein unterfinanziertes, überfordertes, das der gesellschaftlichen Realität in verschiedenen Punkten hinterherhinkt.

Den Prozessen, an denen Menschen in prekären Lebenslagen beteiligt sind, stellt Steinke Beispiele von Superreichen gegenüber. Obwohl Menschen vor dem Gesetz gleich sein sollten, sind sie es de facto nicht, folgert Steinke. Und das, obwohl es eigentlich Maßnahmen gibt, um alle gleich zu behandeln. Eine davon ist die Bemessung des Strafmaßes in Form von Tagessätzen. Wer aber keinerlei Rücklagen hat, bei dem gehen diese Zahlungen von dem ab, was fürs Überleben nötig ist, schreibt Steinke. Obwohl die Summen viel geringer sind, treffen sie die ärmeren Verurteilten härter. Reiche hingegen haben nicht nur Rücklagen, sondern auch viele andere Möglichkeiten, sich glimpflicher aus der Affäre zu ziehen - angefangen damit, dass sie sich Strafverteidiger*innen leisten können. Manager*innen können sich Strafzahlungen im Falle von Wirtschaftskriminalität aus der Unternehmenskasse erstatten lassen. Die Unternehmen wiederum setzen solche Zahlungen von der Steuer ab. Währenddessen werden im Eilverfahren Menschen wegen geringer Delikte wie am Fließband verurteilt.

Die Zahlen, die Steinke präsentiert, geben zu denken. Die Allgemeinheit erleide durch Steuerbetrug jährlich einen Schaden von 50 Milliarden Euro, schreibt er. Der Schaden durch Hartz-IV-Betrug habe 2020 hingegen bei 57,3 Millionen Euro gelegen, also etwa einem Tausendstel, rechnet er vor.

Man könnte dem Autor entgegnen, dass solche Vergleiche müßig sind und zu nichts führen. Aber ist das wirklich so? Oder ist die Frage der Verhältnismäßigkeit an dieser Stelle nicht nur angebracht, sondern überfällig?

Ronen Steinkes Buch ist ein Plädoyer dafür, zu überlegen, wie die Gesellschaft mit unterschiedlichen Formen von Kriminalität umgehen will - und was sie überhaupt als kriminell definieren will.

Die Rentnerin Irene von B. hat immer mal wieder gestohlen. Vielleicht wird sie es wieder tun, wenn ihr nächstes Jahr Kerzen für den Adventskranz fehlen. Steinke fragt in Anbetracht dieser Aussicht: »Aber was wäre, wenn man ehrlich ist, das Schlimmste, was die Gesellschaft noch zu befürchten hätte von dieser Rentnerin, die alle ein bis zwei Jahre mal etwas klaut?«

Ronen Steinke: »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz«, Piper, 272 S., geb., 20 €.

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