Der Krieg verlangt nach »Helden«

Russland verbreitet nach der Invasion in der Ukraine patriotische Erzählungen. Die Realität sieht anders aus

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit dem Beginn des Überfalls der russischen Truppen auf die Ukraine vor über einer Woche werden Helden gesucht. Schon in den ersten Kriegstagen präsentierte Präsident Wolodymyr Selenskyj seine. Sie wussten, dass sie sterben werden. Trotzdem stellten sich 13 Soldaten auf der kleinen Schlangeninsel dem Feind. Nach ihrem Tod waren sie »Helden der Ukraine«. Russland zeigt angeblich genau diese »Helden« als Gefangene. Und in den sozialen Medien tobt ein Glaubenskampf um diese und andere »wahre« Geschichten.

Russland bietet in patriotischen Erzählungen einen Oberleutnant Starostin auf. Dessen T-72-Kampfpanzer erhielt einen Treffer durch eine von den USA in die Ukraine gelieferte Javalin-Abwehrlenkrakete. Die Waffe greift Panzer von oben an, wo die Ungetüme am wenigsten geschützt sind. Starostin und seine beiden Besatzungsmitglieder setzten den Kampf fort und vernichteten zwei ukrainische Panzer. Der Sprecher des Moskauer Verteidigungsministeriums erzählte auch vom »Heldentum« des Oberfeldwebels Nimchenko, der mit seiner Panzerbesatzung in nur 40 Minuten sechs feindliche Panzer, drei Mannschaftstransporter und mehr als 90 »Nationalisten« ausgeschaltet haben soll.

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Mag sein, dass die Erzählungen Tatsachen wiedergeben. Dass sie den Kampfgeist der russischen Truppen anfeuern, ist aber unwahrscheinlich. Westliche Dienste haben – unabhängig von ukrainischen Angaben – Erkenntnisse über die schwindende Moral der Angriffstruppen. »Einige russische Einheiten kapitulieren kampflos«, behauptete ein Sprecher des Pentagons in Washington. Dort bemerkt man auch »ein gewisses risikoscheues Verhalten« bei der russischen Luftwaffe. In der Tat werden nach anfänglichen Präzisionsangriffen kaum noch Einsätze von Jagdbombern und Kampfhubschraubern zur Unterstützung der Bodentruppen geflogen. Die Russen wissen um die Gefahren, die von Ein-Mann-Abwehrraketen – unter anderem von den aus Deutschland gelieferten »Stinger«-Modellen – ausgehen. Selbst die in Rede stehenden alten, aus NVA-Beständen stammenden »Strela-2«-Raketen haben ihren Wert. Denn die ukrainischen Truppen, in die einberufene Reservisten aufgenommen werden, verstehen sich auf den Umgang mit den Waffen. Das ist ein Grund, weshalb die russischen Bodentruppen an allen drei Fronten langsam und nur unter großen Opfern vorankommen.

Offensichtlich gingen die Befehlshaber der russischen Truppen von einem anderen Szenario aus. Sie glaubten der Propaganda von einer »Sonderoperation« wider angeblich in Kiew regierende Faschisten. Man erwartete, von der Bevölkerung mit Blumen statt mit Waffen empfangen zu werden. Solchen Fehleinschätzungen erlagen sowjetische Militärs bereits, als sie 1953 in Ungarn, 1968 in die CSSR und 1979 nach Afghanistan einmarschierten.

Russische Verluste steigen sprunghaft

Die Wehrpflicht beim russischen Heer beträgt zwölf Monate. In dieser Zeit lassen sich keine kriegstauglichen Soldaten ausbilden. Nach den Erfahrungen der Tschetschenien-Kriege schickte die russische Armeeführung zumeist nur Berufs- und Zeitsoldaten an diverse Fronten. Nun treiben sie wieder junge Wehrpflichtige direkt aus Manövern über die ukrainische Grenze. Einigen von ihnen, so ergaben Verhöre Gefangener, wurde nicht einmal gesagt, dass sie im Kampf stehen. Entsprechend sprunghaft stiegen die Verluste.
Bereits in den ersten beiden Kriegstagen zeigte sich, dass Russlands Planung eines schnellen Krieges nicht aufgeht. Die nach Nato-Standard geübte verzögerte Gefechtstaktik der ukrainischen Truppen erwies sich als effektiv. Der von den russischen Truppen der ersten Staffel mitgeführte Treibstoff, die Munition und die Verpflegung waren zu knapp bemessen. Zur Angst der Soldaten kam Hunger, die kalten Nächte taten ein Übriges bei der Demoralisierung der Truppe. Wissend, dass Desertion schwer bestraft wird, ließen ganze Einheiten – oft ohne Gefechtskontakte gehabt zu haben – ihre zum Teil hochmoderne Technik stehen oder machten sie unbrauchbar. Solche Aussagen stützen sich, so schreibt die »New York Times«, auf ein »Mosaik« von Erkennt nissen verschiedener Dienste, die mit technischen Mitteln, aber auch durch menschliche Quellen vor Ort gewonnen werden. Hinzu kommen Aussagen gefangener russischer Soldaten.

In jedem Krieg muss man bei der Bewertung aller angeblichen Fakten vorsichtig sein. Die in den zensierten russischen Medien verbreiteten stammen aus einer »anderen Welt« und die Ukraine kombiniert ihre moralische Überlegenheit bei der Verteidigung der Heimat sowie die auf dem Schlachtfeld errungenen Erfolge mit einer recht einfallsreichen psychologischen Kriegsführung. So ermöglicht man nicht selten gefangenen russischen Soldaten Telefongespräche mit ihren Familien. Sie können mitteilen, dass sie am Leben sind und wo. Sie erzählen, was sie erlebten. So hofft man in Kiew, die enormen Informationsdefizite über den von Präsident Wladimir Putin befohlenen »speziellen Einsatz« abzubauen. Der Berater des ukrainischen Innenministers Anton Heraschtschenko vermeldete via Facebook, man wolle »gefangene russische Soldaten ihren Müttern übergeben, wenn diese in die Ukraine kommen, um sie in Kiew abzuholen«. Westliche Militärs betrachten die Offerte aus verschiedenen Gründen nicht als Finte.

Viele Meldungen lassen sich nicht überprüfen. Dass man in Moskau ungefilterte Informationen fürchtet, ist aber nachweisbar. Die Staatsduma bestätigte am Freitag ein Gesetz. Demnach werden für die Verbreitung »wissentlich falscher Informationen über die russische Armee« empfindliche Geldstrafen in Aussicht gestellt. Die Summe kann bis zu dem Einkommen reichen, das ein Verurteilter in 18 Monaten verdient. Angedroht werden eine dreijährige Zwangsarbeit und noch Schlimmeres.

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