Werbung

Krieg? Kein Kommentar!

Ende der Diskussion: Der Überfall auf die Ukraine lässt viele Russen verstummen

  • Varvara Kolotilova, St. Petersburg
  • Lesedauer: 5 Min.

»Der Krieg gegen die Ukraine ist ein Verbrechen und ich denke, jeder vernünftige Bürger steht hinter mir.« Diese eindeutigen Worte richtete ein Kapitän der russischen Billigfluglinie Pobeda (Sieg) nach der Landung im türkischen Antalya unter Applaus an seine Passagiere.

Das Video der mutigen Ansprache machte in der vergangenen Woche im russischsprachigen Segment des Messengerdienstes Telegram blitzschnell die Runde. Viele zeigten sich beeindruckt von der Courage des Piloten, dessen Arbeitgeber eine Tochterfirma der staatlichen Fluggesellschaft Aeroflot ist.

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Auch weniger bekannte Äußerungen des Widerspruchs gegen Putins Krieg fanden in den vergangenen Tagen ihren Weg in die Öffentlichkeit: In Moskau und St. Petersburg wurden Antikriegsparolen an Wände gesprüht, Aufkleber gegen den Überfall aug das Nachbarland prangen an Zäunen und Metro-Stationen.

Doch was denken einfache Russen über den Ukraine-Krieg? Die Antwort auf diese Frage fällt schwer. Beobachter misstrauen den hohen Zustimmungswerten, die staatsnahe Meinungsforschungsinstitute veröffentlichten. In der Öffentlichkeit finden offene Diskussionen über das Vorgehen der russischen Armee im Nachbarland jedenfalls nicht statt.

Dies zeigt ein Gang durchs Zentrum von St. Petersburg. In einem gut sortierten Laden für Haushaltwaren arbeiten zwei Frauen Mitte 50. Einkäufe solle man am besten sofort und in größerem Umfang als geplant tätigen, empfehlen sie. Noch seien die Preise nicht gestiegen. Mit der nächsten Lieferung stehe aber eine deutliche Teuerung an, erläutern sie mit emotionslosen Mienen. Über den Grund für den Preisanstieg wollen sie nicht sprechen. Auch für Kommentare zur aktuellen Situation sind sie nicht zu haben. Mit jedem Versuch, sie aus der Reserve zu locken, werden sie einsilbiger. Das zum Abschied dahingeworfene »Do swidanija« (Auf Wiedersehen) wirkt frostig.

Wer zum Krieg schweigt, wiegt sich auf der sicheren Seite. Aber es gibt auch andere Mechanismen, um dem ungeliebten Thema auszuweichen. Margarita versucht es zum Beispiel mit Optimismus. Als Kleinkind hat sie die Leningrader Blockade überlebt und strahlt viel Energie und Lebensfreude aus. »Mit Gottes Hilfe geht das alles wieder vorbei«, sagt sie mit einem strahlenden Lächeln, »man muss nur fest dran glauben!« Auf Prognosen will sich die Rentnerin indes nicht festlegen lassen - und einem Gespräch über die brutale russische Kriegsführung in der Ukraine weicht sie aus. »Wir müssen einfach weiterleben.« Bei dem Satz klingt dann doch ein leichter Anflug von Pessimismus an.

Alexander ist Rentner. Wenn er gerade nichts Wichtigeres zu tun hat, verfolgt er die aktuellen Nachrichten über den Krieg. Er sei zu allem bereit, sagt er. Was Alexander genau damit meint, lässt er allerdings offen. Zwar steht niemand in Hörweite, aber wer weiß. Vielleicht hören die Wände schon mit. Am liebsten würde der passionierte Schachspieler jetzt eine Partie spielen, doch sein fester Sparringspartner ist ihm abhanden gekommen - wegen des Krieges. Sie hätten sich vor kurzem heftig gestritten, erzählt Alexander. Der etwa 20 Jahre jüngere Mittvierziger sei nicht von seiner durch Fernsehkonsum gespeisten Überzeugung abzubringen, dass in der Ukraine die Faschisten in die Schranken gewiesen werden müssten. Vor dem Krieg seien Meinungsverschiedenheiten vor oder nach dem Spiel auch vorgekommen. Aber damals hätte man noch über alles reden können. Damit sei jetzt Schluss.

In Geschäften, die wegen der westlichen Sanktionen ihre Schließung angekündigt haben, herrscht derweil reges Treiben. Die finnische Supermarktkette »Prisma« lockt mit erheblichen Rabatten. An der Kasse drängeln sich Kunden mit vollen Körben: Die einen haben sich mit Grundnahrungsmitteln eingedeckt, andere legen eindrucksvolle Alkoholvorräte an. Vor Filialen der Bekleidungskette »Uniqlo« bilden sich lange Schlangen, auch in Moskau. Es sollen nicht zu viele Menschen gleichzeitig die Verkaufsräume betreten. Hier wird wenig geredet, in den Schlangen vor den Bankautomaten ist das anders. Ständig fragt jemand, ob überhaupt noch Geld zum Abheben verfügbar sei. Aus den Nachfragen entspinnen sich Gespräche - vor allem mit denjenigen, die wissen, was tatsächlich in der Ukraine passiert. Und es wissen wollen. Eine sportliche Enddreißigerin, die zwei Jahre in der ukrainischen Hauptstadt Kiew gelebt hat, erzählt mit Wehmut, wie gut es ihr dort ergangen sei. Ein Mann in Lederjacke lamentiert derweil darüber, dass seine Frau in Spanien ohne Geld fest sitze. Sie habe dort jede Menge Ukrainer getroffen, auch »normale«, erzählt er. Es gäbe aber auch viele »Fanatiker« unter ihnen, meint der Mann.

Im vierten Stock eines Bürogebäudes hat Jelisaweta Andrejewna ihren Sitz. Die in ein schlichtes dunkelgrünes Kostüm gekleidete Juristin ist Expertin für Immobilienfragen. Ihr Terminkalender ist so voll, dass sie Überstunden machen muss. Weger der Beschränkungen des internationalen Geldtransfers infolge der Sanktionen sieht sie sich mit großen Herausforderungen konfrontiert. Noch vor zwei Wochen habe sie problemlos Geld aus den USA erhalten, jetzt aber beschäftige sie die Frage, welche Optionen die nahe Zukunft bereithalte. »Es wird Wege über Drittländer geben, Geld nach Russland zu überweisen«, ist sie sich sicher. Dann beendet sie abrupt das Gespräch. Es mache keinen Sinn, darüber weiter zu diskutieren. »Wir können es ohnehin nicht ändern.«

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.