• Politik
  • Zwei Jahre Pandemiepolitik

Widerstand - aber wogegen?

Welche Folgen der »Corona-Schock« für die Ungleichheit hatte, warum der Politik manche Proteste lieber sind als andere und wie die nationale Karte sticht.

  • Stephan Lessenich
  • Lesedauer: 7 Min.
Führt der »Corona-Schock« womöglich dazu, dass sich die Verhältnisse verbessern und die Gesellschaft solidarischer wird? Gerade zu Beginn der Pandemie gab es diese Hoffnung.
Führt der »Corona-Schock« womöglich dazu, dass sich die Verhältnisse verbessern und die Gesellschaft solidarischer wird? Gerade zu Beginn der Pandemie gab es diese Hoffnung.

Mit dem mörderischen Angriff auf die Ukraine erscheinen uns die vergangenen zwei Jahre pandemischen Geschehens schon wieder wie Schnee von gestern. Die spätmodernen »Zeitenwenden« folgen in immer kürzeren Abständen aufeinander: Auch nach »Putins Krieg« wird wieder einmal - so heißt es in diesen Tagen unisono - nichts mehr so sein wie zuvor.

Der Autor
Stephan Lessenich (Jahrgang 1965) ist Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Direktor des Instituts für Sozialforschung. Von 2013 bis 2017 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Er ist Mitglied zahlreicher Wissenschaftlicher Beiräte, etwa des Instituts für sozial-ökologische Forschung oder des Instituts Solidarische Moderne, und langjähriger Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Politische Soziologie sozialer Ungleichheit und Kapitalismusanalyse.

Mit diesem Standardurteil sind Zeitzeugen gerne bei der Hand, um ihrem Erstaunen ob der eigentlich nicht mehr für denkbar gehaltenen, offenbar aber doch immer gegebenen Möglichkeit plötzlicher gesellschaftlicher Veränderungen Ausdruck zu geben. Aber stimmt es denn, dass im März 2022 nichts mehr so ist wie im Vormonat? Ist der »Zivilisationsbruch« des russischen Neoimperialismus denn so neu - oder nur die westliche Erinnerung an den Jugoslawienkrieg getrübt? Ist der 100-Milliarden-Coup des Bundeskanzlers zur gesamtdeutschen Wehrertüchtigung wirklich revolutionär - oder eher die neosozialdemokratische Wiederaufnahme der im Zeichen des Kalten Kriegs noch an die transatlantische Schutzmacht der BRD delegierten Aufrüstungsbeschlüsse?

Das Virus als äußerer Feind

Wie immer wird die Antwort auf derartige Fragen erst die zukünftige Geschichte beziehungsweise Geschichtsschreibung geben - so wie sie dereinst auch über die politischen und sozialen Folgen der Covid-19-Pandemie richten wird. Doch sollten, nach zwei Jahren einschlägiger gesellschaftlicher Erfahrung, erste Zwischenüberlegungen zulässig und angemessen sein, ob denn nun nach Corona - und mit dem Krieg in der Ukraine ist diese Ära zumindest politisch-medial bereits eingeläutet - wenigstens irgendetwas nicht mehr so ist wie zuvor. Denn wie beim aktuellen »Putin-Schock« wurde ja auch der »Corona-Schock« öffentlich zunächst so gedeutet, dass hier der jähe Auftritt eines äußeren Feindes alles Gewohnte auf den Kopf stellt, mit den etablierten Vorstellungen gesellschaftlicher Normalität aufräumt, die strukturellen Probleme eben dieser Normalität (Wort oder eher Unwort des Jahres: wie in einem Brennglas) aufzeigt und uns alle - endlich wieder! - enger zusammenrücken lässt. Nun, was ist aus diesen Deutungen und Erwartungen geworden?

Konzentrieren wir uns der gebotenen Kürze halber auf das strukturelle Problem der krassen sozialen Ungleichheit, die hierzulande wie weltweit herrscht. Haben sich durch Corona diesbezüglich die Verhältnisse geändert, womöglich gar zum Besseren? Nichts spricht dafür. Vielmehr ist im Grundsatz alles beim Alten geblieben. Die Aufregung über die Arbeitsbedingungen im Pflegesektor oder (gleichsam ein Kollateralerfolg coronagetriebener Sozialkritik) in der Fleischindustrie hat sich schnell wieder gelegt, ohne dass es hier wie dort zu durchgreifenden Verbesserungen gekommen wäre. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, der deutsche Entwicklungslandstatus in Sachen Public Health, überhaupt die strukturelle Vernachlässigung der sozialen Infrastruktur in diesem Land: alles letztlich kein Thema. Und zumal die Problematisierung der Tatsache, dass die Möglichkeiten der alltagspraktischen Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen radikal ungleich verteilt sind, kam einem Sturm im Brennglas gleich, um im schiefen, aber beliebten Bild zu bleiben.

Dabei sind diese Ungleichheiten gut dokumentiert und wohlbekannt. Prekäre Beschäftigungsbedingungen, beengte Wohnverhältnisse, beschränkte Bildungszugänge, schlechtere Gesundheitsversorgung, wenig tragfähige Netzwerkstrukturen: Das ganz normale, vielschichtige Benachteiligungssyndrom der guten alten, ach so sozialen Marktwirtschaft hat auch in diesem Fall wieder zugeschlagen. Wer vor Corona schlecht gestellt war in dieser Gesellschaft, war dies auch in der Pandemie und wird es auch danach sein. Die bestehenden Ungleichheitsstrukturen wurden durch das Virus offengelegt - und zementiert.

Dass sich daran nichts ändert, liegt nicht zuletzt an einer politischen Öffentlichkeit, die durchweg von den Interessenlagen, Lebensmustern und Weltanschauungen der (oberen) Mittelschichten dominiert ist. Als sprechendes Beispiel für diese Schieflage mag die über Monate hinweg geführte Debatte um die Sorgen und Nöte einer Gesellschaft im Homeoffice dienen.

Die Mittelschicht und das Homeoffice

Schon die den Diskurs bestimmende Begrifflichkeit ist bezeichnend: Die Tatsache, dass für mindestens zwei Drittel der abhängig Beschäftigten nicht nur der Begriff ein Fremdwort ist, sondern überhaupt die Vorstellung des sich zu Hause in der Arbeit Einrichtens wie aus der Welt gefallen wirkt, verweist auf die massiven Wahrnehmungsstörungen einer letztlich sich selbst bespiegelnden Öffentlichkeit. Hier wie eigentlich immer konnten bestimmte gesellschaftliche Milieus ihre eigene, partikulare Position erfolgreich als verallgemeinerbare behaupten und als politisch zu berücksichtigende durchsetzen. Nicht zufällig stand denn auch der zuständige Minister Gewehr bei Fuß, um die Lage der heimarbeitenden Klassen zu verbessern.

Der offen einseitigen Parteinahme der Pandemiepolitik nicht nur in diesem Fall zum Trotz: So unverhüllt realitätsverfälschend kann die reflexhafte Rede von dem »einen Boot«, in dem angeblich wir alle sitzen, aller historischen Erfahrung nach gar nicht sein, als dass sie nicht bei nächstbester Gelegenheit erneut bemüht werden dürfte. Nicht zuletzt, weil irgendwas ja dann doch auch dran ist an der Vorstellung, man teile - als digital kommunizierender Personaler ebenso wie als plexiglasscheibengeschützte Supermarktkassiererin - ein gemeinsames Anliegen: Dass nämlich »wir« hier in Deutschland einigermaßen gut aus der Sache rauskommen mögen. Die nationale Karte sticht, das haben die beiden vergangenen Jahre vielleicht vor allem anderen gezeigt, wie eh und je.

Wen auch immer Trump angewidert, wer auch immer sich über den Brexit aufgeregt haben mag: »Deutschland zuerst« ist uns selbstredend alles andere als fremd, und »natürlich« musste es der deutschen Volksvertretung darum gehen, neben all den anderen globalen Konkurrenzen auch im internationalen Pandemiewettbewerb zu bestehen. Was kümmern uns die Intensivbettendichte, die Inzidenzraten oder die Impfquoten in Zentralafrika oder Lateinamerika? Weltweit sechs Millionen Menschen, die sich mit dem Virus infiziert haben und gestorben sind, können uns nicht erschüttern und zu Zugeständnissen beim Patentschutz bewegen - man wird doch nicht gleich an dem pharmaindustriellen Ast sägen, auf dem man sitzt!

Alles beim Alten also: Das gilt aber auch nach innen, auch für die politischen Verhältnisse der Republik. Denn bei aller bundespräsidialer Sonntagsredenkritik des querfrontartigen Querdenkertums, bei allen Sorgeerklärungen der politisch Verantwortlichen um die Demokratie: Wo der Widerstand gegen »die da oben« aus der »Mitte der Gesellschaft« zu kommen scheint, von »ganz normalen« Bürgerinnen und Bürgern, da halten sich Politik, Administration und Ordnungshüter plötzlich vornehm zurück. Den Leuten eine Impfpflicht auferlegen? Da ist die Partei der Freiheit davor, da wird im Bundestag der Fraktionszwang aufgehoben, da ist das Demonstrationsrecht allerhöchstes Gut, da drückt die Polizei bei allfälligen Regelverstößen ein Auge zu.

Übermäßige Staatseingriffe und Hartz IV

Was wäre wohl passiert, wenn der Aufstand gegen die Pandemiepolitik von links geprobt, gar von der radikalen Linken organisiert worden wäre - wer zählte die Hausdurchsuchungen, wer die Schlagstockeinsätze? Was wäre, wenn man - stellen wir uns mal ganz dumm - die kollektive Verweigerung der wirtschaftlichen und sozialen Offenbarungspflicht von Hartz-IV-Empfängerhaushalten gegenüber den Arbeitsagenturen mit deren Anspruch auf Schutz vor übermäßigem Staatseingriff und dem Recht auf psychophysische Unversehrtheit begründen würde? Und wie war das noch damals bei den Hunderttausenden von Wehrdienstverweigerern: Hätten sie bei ihren gesetzlich verfügten Zwangsanhörungen vor Zweitweltkriegsveteranen vielleicht auf die noch unerforschten Langzeitwirkungen des Kriegsgeräteeinsatzes verweisen sollen?

Klar doch: Abwegige, absurde, fehlgeleitete Einwürfe, die den postpandemischen Weltenlauf nicht aufhalten werden. Womit wir irgendwie wieder beim Ausgangspunkt unserer Argumentation angelangt wären. Wir halten fest: Wenn im »Brennglas« der Pandemie irgendein Feuer entfacht worden sein sollte, dann war dies nur ein kleiner, kurzer Schwelbrand, der sogleich wieder erstickt wurde - und nun bitte weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen! Und ja, der »gesellschaftliche Zusammenhalt« wurde vermutlich doch gestärkt, jedenfalls gegen die da draußen. Im Lichte der akuten Gegenwart gesehen, kommt einem da eine böse Ahnung: Könnte es sein, dass das Zusammenrücken in der Pandemie - gegen einen äußeren Feind, gegen die Konkurrenz von fern und nah - sich als ein Vorbote zukünftigen Krisenmanagements erweisen wird? Wie viel Corona-Zusammenhalt steckt in der in den letzten Wochen urplötzlich zur Schau gestellten, neuen deutschen Wehrtüchtigkeit? Sind wir wieder wer? Und wenn ja, wie viele?

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