Untrennbare Menschheit

Eine Universalgeschichte, wie sie Schiller vorschwebte, zu verfassen, ist ein schier nicht zu bewältigendes Unterfangen. Zwei neu erschienene Werke deutscher Historiker nähern sich aber diesem Ideal an.

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

»Was heißt und zu welchem Ende studieren wir Universalgeschichte?«, titelte Schiller seine Antrittsvorlesung an der Jenenser Universität am 26. Mai 1789. Der Dichter hatte die Geschichte der gesamten Menschheit von Anbeginn und auf allen Erdteilen im Blick. Heute interessiert man sich höchstens für globalgeschichtliche Aspekte in bestimmten Epochen, die Beziehungen zwischen ausgewählten Ländern, Völkern, Kulturen. Wie haben sie sich gegenseitig beeinflusst? Welche Rolle spielten dabei Migration, Religionen, Sprachen und der Fernhandel? Das sind jedoch jeweils nur Ausschnitte eines großen Ganzen.

An Schillers Idee einer Universalgeschichte, die vielleicht überhaupt nicht realisierbar ist, nähern sich zwei neue monumentale Großerzählungen an: Michael Borgolte, emeritierter Professor für mittelalterliche Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, mit seiner Globalgeschichte eines Jahrtausends und Thomas O. Höllmann, emeritierter Professor für Sinologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit seinem Buch über China und die Seidenstraße. Beide Werke überschneiden sich teils in geografischer und in zeitlicher Hinsicht, weisen jedoch unterschiedliche Ansätze auf.

Borgolte bietet eine kritische Bestandsaufnahme des Standes der Mittelalterforschung und setzt sich mit den Ansichten berühmter Historiker, vor allem Mediävisten, auseinander, darunter des Franzosen Jacques Le Goff und des Belgiers Henri Pirenne. Dies tut er in bewundernswerter Akribie. Profunde Kenntnis, Detailtreue, Faktenreichtum und sorgfältige Quellenkritik zeichnet sein Buch von der ersten bis zur letzten Seite aus. Allein im Hauptteil »Eurasien. Verknüpfungen in der trikontinentalen Menschenwelt« verweist er in 3137 Fußnoten auf die verarbeitete Literatur. Berichtet wird chronologisch, aber auch regional gegliedert über die mittelalterliche Welt, Imperien, Ökonomie, Kulturen und weltanschauliche Einflüsse. Der Autor verweist auf den Fund von mehr als 150 000 arabischen Münzen aus dem 9. und 10. Jahrhundert auf der schwedischen Insel Gotland bei archäologischen Grabungen. Dieser illustriert mehr als jeder Kommentar die wirtschaftlichen Zusammenhänge der Menschen bereits damals über viele Tausend Kilometer. Für Westeuropäer, die das Mittelalter in erster Linie mit der Welt Karls des Großen und seiner Nachfolger oder mit der halbwegs vertrauten Geschichte des christlich-islamischen Mittelmeeres verbinden, dürften die Ausführungen über das tausendjährige Byzanz sowie die Ausstrahlung des chinesischen Kaiserreiches und des Großreiches von Dschingis Khan überraschend und erhellend sein. Im Zeitalter des interkontinentalen Flugverkehrs ist man sich mitunter nicht klar darüber, dass es »Globalisierung« schon in »grauer« Vorzeit gab.

Dies gilt auch für ein Projekt, dem Borgolte ökonomische Beständigkeit jenseits aller politischen und militärischen Verwerfungen für den von ihm begutachteten Zeitraum bescheinigt: die sogenannte Seidenstraße, die tatsächlich ein Netz von im Mittelalter stark frequentierten Handelsrouten über Land und zu Wasser meint. Mit eben diesem beschäftigt sich eingehender und weitgefasster Höllmann. Er schöpft wesentlich aus von ihm erforschten chinesischen und japanischen Quellen, die er selbst übersetzte.

Die nachhaltigsten »Güter«, die über die Seidenstraße von China nach Westen gelangten, sind nach Ansicht Höllmanns zwei Erfindungen: das Papier und die Druckkunst. Überwiegend ökonomische Motivation lag der »Seidenstraße« zugrunde. Der Autor zitiert reichlich aus zeitgenössischen Berichten und Dokumenten, erörtert geografische, logistische und politische Probleme, die zu überwinden waren. Zahlreiche farbige Abbildungen, einige Karten und ein Überblick über die chinesischen Dynastien bereichern das kostbar ausgestattete Buch.

Höllmann widmet sein Buch dem Andenken an Erich Haenisch (1880-1966), dem einzigen deutschen Sinologen, der in der NS-Zeit den Mut aufbrachte, sich bei den Behörden um die Entlassung des französischen Kollegen Henri Maspero aus dem KZ Buchenwald einzusetzen - leider vergebens. Maspero starb 1942 im Lager auf dem Ettersberg.

Michael Borgolte: Die Welten des Mittelalters. Globalgeschichte eines Jahrtausends. C.H.Beck, 1102 S., geb., 48 €.
Thomas O. Höllmann: China und die Seidenstraße. Kultur und Geschichte von der frühen Kaiserzeit bis zur Gegenwart. Ebenda, 454 S., geb., 34 €.

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