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Rostocker Forscher über den Zusammenhang von Sozialstatus und Ausbreitung der Pandemie

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 6 Min.

Sie haben für Deutschland untersucht, wieweit Wohnort, Einkommen und andere sozioökonomische Faktoren Einfluss haben auf das Risiko, sich mit Covid-19 zu infizieren. Was fiel dabei besonders auf?

Das auffälligste Ergebnis war die Umkehrung des sozialen Gradienten, den wir im Verlauf der ersten Welle beobachten konnten. Also die Tatsache, dass zunächst Landkreise mit einem höheren sozioökonomischen Status von einer stärkeren Verbreitung der Infektionen betroffen waren und sich dieses Muster mit Beginn des Lockdowns beziehungsweise im Verlauf der ersten Welle umkehrte. Dann waren eher sozioökonomisch schwache Landkreise betroffen. Ein ähnlicher Effekt fand sich auch für die zweite Welle. Auch hier waren mit zunehmender Dauer der zweiten Welle Infektions- und Sterberaten besonders stark erhöht in Regionen mit niedrigem sozioökonomischem Status und mit einem großen Anteil älterer Menschen, die in Pflegeheimen leben.

Interview
Constantin Reinke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Empirische Sozialforschung und Demographie der Universität Rostock. Gemeinsam mit Lehrstuhlinhaberin Gabriele Doblhammer und Daniel Kreft verfasste er zwei Studien zu sozialen Ungleichheiten im Infektionsgeschehen.

Was unterscheidet Ihr Herangehen von bisherigen Studien?

Wir haben uns für einen datengetriebenen Ansatz entschieden, das heißt, wir haben eine sehr große Menge an Indikatoren unterschiedlichster gesellschaftlicher Bereiche auf Ebene der Landkreise in unsere Analysen einbezogen und mit einem Algorithmus aus dem Bereich des maschinellen Lernens - ein Bereich der künstlichen Intelligenz - nach statistischen Zusammenhängen zu den Infektionen gesucht. Wir sind nicht die einzigen mit einem solchen Vorgehen, aber viele andere Studien haben ihre Analysen eher auf wenige vorher ausgewählte Einflussfaktoren ausgerichtet. Wir werfen sozusagen einen umfassenderen Blick auf die räumliche Verteilung der Pandemie als bei anderen Studien.

Ich lese heraus, dass soziale Schichten mit hoher Mobilität den Anfang der Pandemiewelle bestimmten. Sie machen das an Urlaubsreisen wohlhabenderer Schichten fest. Spielt also Arbeitsmigration nur eine geringe Rolle?

Der Beginn der ersten Welle hing stark mit der Rückreise der Ski-Urlauber aus Hotspotgebieten zusammen, wie die in unserer Studie enthaltene Information zur Entfernung einer Region vom Skiort Ischgl zeigt. Je weiter weg eine Region von Ischgl ist, desto niedriger waren die Inzidenzen. Dieser Einfluss nahm jedoch mit Fortschreiten der Welle ab und ab April 2020 fanden wir einen verstärkten Einfluss der internationalen Vernetzung, gemessen durch den Saldo der internationalen Zu- und Fortzüge in einer Region. Wir vermuten, dass in Landkreisen mit einem höheren Saldo an Zuzügen eine größere Gruppe in systemrelevanten Berufen arbeitet und somit seltener die Möglichkeit zum Homeoffice bestand. Im weiteren Verlauf der Pandemie sehen wir auch erhöhte Inzidenzen in stark landwirtschaftlich genutzten Regionen, was mit dem hohen Infektionsrisiko von Saisonarbeitern in der Landwirtschaft und von Arbeitern in Schlachthöfen zusammenhängt.

Wäre also die sinnvollste Maßnahme der Pandemiebekämpfung möglichst frühzeitige Einschränkung oder zumindest Kontrolle der Reisetätigkeit?

Bei neu auftretenden Pandemien ist dies sicher nicht von der Hand zu weisen. Für die Entwicklung im kommenden Herbst sehen wir eher die Notwendigkeit eines engmaschigen Monitorings des Infektionsgeschehens durch Testen, mit rechtzeitiger Reaktion in Hinblick auf medizinische Maßnahmen wie (Booster-)Impfungen und das Tragen von Masken.

Sehen Sie wesentliche Unterschiede zu anderen Industrieländern?

Unsere Analysen beschränken sich grundsätzlich auf Deutschland und eine Übertragung auf andere Länder mit anderen Alters-, Raum- und Sozialstrukturen ist immer mit Vorsicht zu betrachten. Zumal sich auch die ergriffenen Maßnahmen in Art und Zeitpunkt unterscheiden. Aber das Muster starker sozialer Unterschiede im Infektions- und Sterbegeschehen, wie auch die besondere Vulnerabilität der älteren Bevölkerung in Pflegeheimen konnten ähnlich wie in unserer Studie auch für andere Länder identifiziert werden.

Untersuchungen aus Großbritannien und den USA sehen höhere Inzidenzen bei höheren Einkommen, aber mehr schwere Erkrankungen bei geringen. Kommen Sie zu vergleichbaren Ergebnissen?

Da wir in unseren Analysen für die erste Welle lediglich die gemeldeten Infektionen angeschaut haben, können wir keine Aussagen über die Krankheitsschwere treffen. In der zweiten Welle zeigt sich aber ganz klar, dass in Regionen mit niedrigem sozialen Status die Sterblichkeit höher war. Und dieser soziale Unterschied war sogar noch stärker als bei den Infektionen. Dies zeigt eindeutig, dass die Krankheitslast in sozioökonomisch schlechter gestellten Schichten höher ist, was auch mit stärkerer Verbreitung chronischer Vorerkrankungen zusammenhängen kann.

Wie erklären Sie sich, dass nach Ihren Daten die Infektion von wohlhabenden ländlichen Gebieten auf städtische Gebiete mit geringeren Einkommen überspringt?

Wir vermuten, dass zu Beginn der ersten Welle die höhere Mobilität in Gruppen mit höherem sozioökonomischem Status entscheidend für die Ausbreitung der Infektionen verantwortlich war. Nach Beginn der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie konnten Gruppen mit höherem sozioökonomischem Status einer Infektion besser ausweichen, z. B. durch Arbeiten im Homeoffice. Geringverdiener arbeiten häufiger in Berufen, bei denen seltener auf die Arbeit im Homeoffice ausweichen können.

Und wie passt der bekannte zweite Ausbreitungsherd der ersten Welle in Nordrhein-Westfalen zu dem von Ihnen beobachteten Süd-Nord-Gefälle?

Hier liegt die Vermutung nahe, dass Karnevalssitzungen entscheidend für die Verbreitung verantwortlich waren. Karneval wird vorwiegend in katholischen Regionen gefeiert. In unseren Analysen haben wir den Anteil der Römisch-Katholischen Bevölkerung in den Landkreisen als einen wichtigen Einflussfaktor bis Mitte April ausgemacht, dann verliert dieser Faktor an Bedeutung.

Sie benötigen für Ihre Studie Daten über die Zahl der Infektionen und Hospitalisierungen. Wie schätzen Sie die Qualität epidemiologischer Daten in Deutschland ein?

Unsere Studie beruht auf den Daten des Robert Koch-Institutes zu Covid-19 Infektionen und Sterblichkeit. Hospitalisierungsdaten wurden von uns nicht betrachtet. Die tatsächlichen Infektionsraten für Covid-19 sind nicht bekannt, da es asymptomatische Personen gibt, regionale Kriterien für die Zulassung zu Tests mit unterschiedlichen Testraten führen und die lokalen Gesundheitsämter dem RKI unterschiedliche Daten melden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Daten des RKI nicht den Zeitpunkt der Infektion, sondern den Zeitpunkt der Diagnose angeben. Zudem fehlen Informationen über demografische und sozioökonomische Charakteristika der Infizierten und deren Vorerkrankungen. Hier hat das deutsche Gesundheitssystem viel aufzuholen.

Lassen sich aus Ihren Studien Schlüsse ziehen für weitere Corona-Wellen und andere durch die Luft übertragene Infektionen?

Die räumliche Ausbreitung der Covid-19 Pandemie ist nicht zufällig, sondern wird durch die sozialen Merkmale der Bevölkerung bestimmt. Soziale Schichten mit hoher Mobilität z. B. im Urlaub bestimmen am Anfang von Pandemiewellen das Geschehen. Diese Schichten können sich in den Lockdowns z. B. durch Homeoffice besser schützen. Damit verlagert sich die Pandemie zunehmend in die sogenannten systemrelevanten Bevölkerungsgruppen und die besonders vulnerablen älteren Menschen in Pflegeheimen. Ein ähnliches Geschehen wäre auch im kommenden Herbst nicht unwahrscheinlich.

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