Demonstranten torpedieren Friedensprozess

Während in Armenien die Proteste eskalieren, sucht die Regierung die Annäherung an die Türkei

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Regierungen der Türkei und Armeniens sind offenbar fest entschlossen, die jahrzehntelange Eiszeit zwischen beiden Ländern endgültig abzutauen. Am Dienstag trafen sich der armenische und türkische Unterhändler, Ruben Rubinian und Serdar Kilic, in der österreichischen Hauptstadt Wien. Es war das dritte Gespräch nach ersten Treffen am 14. Januar in Moskau und am 24. Februar in Wien. »Beide Seiten bestätigten ihre Bereitschaft, den Prozess ohne Vorbedingungen fortzusetzen«, heißt es in einer Erklärung des armenischen Außenministeriums. Ziel sei »eine vollständige Regelung der Beziehungen zwischen den beiden Nationen«, Details der Gespräche wurden jedoch nicht bekannt.

Armenien und die Türkei unterhalten keine diplomatischen Beziehungen, die Landgrenzen sind geschlossen, und schwer lastet der Völkermord an bis zu 1,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich auf dem Verhältnis der beiden Nachbarländer. Aber für das verarmte Armenien sind offene Grenzen alternativlos: Das Land kann sich allein über Georgien und den Iran versorgen, braucht also den Handel mit der Türkei.

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Aber für eine Aussöhnung mit der Türkei und nachhaltig friedliche Beziehungen mit seinen Nachbarn muss die armenische Regierung ein noch größeres Hindernis aus dem Weg räumen: den Konflikt um die autonome Region Berg-Karabach, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Die Türkei schloss 1993 ihre Grenze zu Armenien, nachdem armenische Separatisten die Kontrolle über die abtrünnige, mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Berg-Karabach und sieben umliegende Bezirke übernahm.

Im Herbst 2020 änderte sich die Lage schlagartig: Mithilfe türkischer militärischer Unterstützung eroberte Aserbaidschan in einem sechswöchigen Konflikt um Berg-Karabach die von der armenischen Armee gehaltenen Gebiete zurück. Mehr als 6500 Menschen wurden dabei getötet. Die Gefechte endeten mit einer von Russland vermittelten Waffenstillstandsvereinbarung zugunsten Aserbaidschans. Sie war mit erheblichen Gebietsverlusten für Armenien verbunden.

Die armenische Regierung unter Führung von Nikol Paschinjan hat tatsächlich keine andere Wahl, als sich mit Aserbaidschan auf eine vertragliche Lösung zur Beilegung des Konflikts zu verständigen, das heißt einen Friedensvertrag auszuhandeln. Anfang April hatten sich Panschinjan und der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew auf Einladung des Präsidenten des Europäischen Rats, Charles Michel, in Brüssel getroffen. »Wir haben gemeinsam beschlossen, einen konkreten Prozess einzuleiten, einen möglichen Friedensvertrag vorzubereiten und alle notwendigen Elemente für einen solchen Vertrag zu behandeln«, sagte Michel damals nach dem trilateralen Treffen.

Die Regierung in Baku möchte, dass das Friedensabkommen auf fünf Elementen beruht, darunter die gegenseitige Anerkennung der territorialen Integrität der jeweils anderen Seite. Paschinjan hat bereits öffentlich erklärt, dass diese Elemente für Eriwan im Prinzip akzeptabel sind. Der springende Punkt dabei ist: Armenien müsste auf alle territorialen Ansprüche in Berg-Karabach verzichten. Für die armenische Opposition kommt das einem Landesverrat gleich.

Seit Tagen demonstrieren die Armenier*innen daher, fordern den Rücktritt der Regierung. Auch am Dienstag gingen Tausende Menschen in der Hauptstadt Eriwan und in anderen Städten auf die Straße, um gegen Zugeständnisse an das verfeindete Nachbarland Aserbaidschan zu protestieren im Konflikt um die umstrittene Region Berg-Karabach. Am Abend folgten erneut Tausende Menschen einem Aufruf der Opposition und forderten bei einer Kundgebung im Zentrum von Eriwan Paschinjans Rücktritt. Bei der ersten Kundgebung am Vormittag spielten sich in Eriwan chaotische Szenen ab, Demonstranten legten den Verkehr auf den wichtigsten Straßen lahm. Die Polizei meldete am Abend landesweit 237 Festnahmen.

Ein Demonstrant in Eriwan, der 57-jährige Schmied Sergej Howhannisjan, sagte der Nachrichtenagentur AFP, Paschinjan müsse gehen, »weil er für die Niederlage steht und Armenien mit einem solchen Anführer keine Zukunft hat.« Er warf dem Regierungschef vor, Berg-Karabach aufzugeben, »für das wir unser Blut vergossen haben.«

Die Opposition wirft Paschinjan vor, die Region Berg-Karabach komplett an Aserbaidschan abtreten zu wollen. Oppositionsführer Ischchan Sagateljan warf Paschinjan »Verrat« am Volk vor. Er habe »kein Mandat« dafür, die umstrittene Region an Aserbaidschan abzugeben, und kündigte an, die Opposition werde so lange protestieren, »bis Paschinjan geht«.

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