Das soll der Krieg des Volkes sein

Die Rote Armee als multinationale Streitkraft – Fiktion oder Überlebensbedingung?

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 7 Min.
Sowjetische Truppen in Leningrad
Sowjetische Truppen in Leningrad

Zwei Tage nach dem Angriff des faschistischen Deutschlands veröffentlichte die sowjetische Zeitung »Iswestija« jene hehren Verse des Dichters Wassili Lebedew-Kumatsch: »Steh auf, steh auf, du Riesenland! / Heraus zur großen Schlacht! … / Tod der Faschistenmacht!« Sein Lied vom »Heiligen Krieg« erregte eine ganze Kriegsgeneration und trug dazu bei, dass der »Große Vaterländische Krieg«, wie er bald genannt wurde, ein Krieg aller Nationen, Nationalitäten und Ethnien der Sowjetunion wurde.

Man mag es kaum glauben, soll oder will es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht: Dieses Land war 1917 mit der Verheißung des Internationalismus angetreten und praktizierte diesen auch. Erstmals in der Geschichte sollten Russe, Usbeke, Ukrainer, Georgier und Este gleich in Rechten und Pflichten beim Aufbau einer neuen Gesellschaft sein. Die Verfassung von 1936 erklärte zudem: »Der Militärdienst in den Reihen der Roten Armee der Arbeiter und Bauern ist Ehrenpflicht der Bürger der UdSSR.« Und ein Gesetz »Über die allgemeine Wehrpflicht« vom 1. September 1939, dem Tag, als Hitlerdeutschland Polen überfiel, verpflichtete alle Männer unabhängig von »Rasse, Nationalität, Glaubensbekenntnis, Bildungsgrad sowie sozialer Herkunft und Stellung«.

Die Sowjetunion umfasste 128 Nationalen und Völkerschaften. Sie sollten aus teilweise vorfeudalen, feudalen und kapitalistischen Ausgangsbedingungen unter dem Banner des Sozialismus in die Zukunft geführt werden. Die Kluft zwischen den Industriezentren Russlands und in der Ukraine sowie den Dörfern Mittelasiens oder des Kaukasus waren damals noch groß. Das betraf Bildung, Infrastruktur, Lebensstandards. Die Rote Armee war auserkoren, bei der Beseitigung von Analphabetentum und Unterentwicklung eine integrative Rolle zu spielen. Auch die Soldaten waren vielfach erst auf ein bestimmtes Bildungsniveau zu bringen; und sie mussten zumindest die russische Kommandosprache erlernen. Das hatte Auswirkungen auf die Kommunikation in den einzelnen Sowjetrepubliken, aus denen die Angehörigen der multinational zusammengesetzte militärischen Verbände stammten. Diese wurden allerdings 1938 im Zuge einer Militärreform und unter dem Eindruck der sich auch gegen »nationalistische Abweichungen« richtenden stalinistischen Säuberungen aufgelöst. Dies spiegelte sich dann auch am Vorabend des Krieges 1941 wider. In der Roten Armee stellten Russen mit 56,4 Prozent den größten Anteil der Armeeangehörigen, Ukrainer folgten mit 20,2 Prozent, Belorussen mit 4,35 Prozent; die vielfältigen Völker Zentralasiens brachten 5,3 Prozent der Rotarmisten auf, Armenier machten 1,2 und Aserbaidschaner 1,1 Prozent, Georgier 1,4 und Tataren zwei Prozent sowie Juden 1,8 Prozent aus.

Da Stalin die von Hitlerdeutschland ausgehende Kriegsgefahr unterschätzt hatte, musste nach dem Einfall der Wehrmacht das Land faktisch von heute auf morgen die Verteidigung, Rüstungswirtschaft und das Hinterland neu organisieren. Der Partei- und Staatschef und nunmehriger Oberbefehlshaber hatte sich zu erklären. In seiner ersten Rede nach dem deutschen Überfall wandte er sich fast flehend an die Bevölkerung seines Reiches: »Genossen! Bürger! Brüder und Schwestern! Kämpfer unserer Armee und Flotte! … meine Freunde!« Das war für manchen schwer zu verdauen nach dem Großen Terror der 30er Jahre. Unzählige Kommunisten und Parteilose, Andersdenkende, politische Gegner ebenso wie Unpolitische waren willkürlich zu »Volksfeinden« erklärt, mussten den Weg in die Gulags antreten oder wurden von Exekutionskommandos niederkartätscht.

Das Vertrauen in die Sache der Sowjetunion war jedoch in der Bevölkerung offenbar größer. Der Schriftsteller Daniil Granin, als Panzeroffizier zeitweise selbst an der Leningrader Front, hat Tagebucheintragungen, im Nachlass von Einwohnern der von den Deutschen 900 Tage lang belagerten und ausgehungerten Stadt, gesichtet und veröffentlicht. Er betonte »die Geisteshaltung der Verteidiger Leningrads«: »Sie zeugte von der Leningrader Intelligenz, aber auch von der nachhaltigen Erziehung des Volkes in den Vorkriegsjahren im Sinne des Internationalismus … Es war nicht einfach, das erhabene Gefühl der Brüderlichkeit beharrlich in sich wachzuhalten. Der berechtigte Hass auf den gnadenlosen Feind, der so viel Leid verursachte, nahm zuweilen unerträgliche Ausmaße an. Doch die naiven Formeln und Schemata traten nach und nach in den Hintergrund. Es blieb und festigte sich das Bewusstsein, dass alle Opfer und Leiden deshalb gerechtfertigt waren, weil sie nicht für die Herrschaft eines Volkes über das andere geführt und erduldet wurden, sondern für eine Zukunft ohne Kriege und Barbarei, für ein menschenwürdiges Leben.«

An allen Fronten musste ums Überleben gekämpft werden. Die Zusammensetzung der Truppen und der Offizierskorps wandelten sich. Rekrutierungsgebiete im Westen gingen verloren, der Anteil der Soldaten aus Mittelasien stieg, auch bei den Offizieren. Natürlich dominierten immer noch die Russen, aber auch Ukrainer, Belorussen, Juden, Kaukasier übernahmen Kommandos in der Roten Armee. Es gab Animositäten, nationalistischen Dünkel, »Vorkommnisse«. Und doch überwog das Gemeinsame: gegen den Feind, den Aggressor, für »die Sache«. Soldaten wie Partisaninnen kämpften wacker. Der höchste Orden, »Held der Sowjetunion«, wurde im Krieg 11 657 Mal verliehen, jede vierte Auszeichnung erfolgte postum. 8182 Russen, 2072 Ukrainer, 311 Belorussen, 161 Tataren, 108 Juden, 91 Grusinier und 90 Armenier erhielten diese Ehrung sowie Angehörige von weiteren 55 Nationalitäten.

Die sicher nicht wohlwollende britische Historikerin Cathrine Merridale lässt eine Partisanin auf der Krim sprechen: »In dem Wald gab es vierunddreißig verschiedene Nationalitäten. Selbstverständlich dominierten die Russen, doch lebten da auch Ukrainer, Weißrussen, Krimtataren, Griechen, Armenier, Georgier, Slowaken, Tschechen und Veteranen aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Wir machten keine Unterschiede zwischen ihnen.« Die zitierte Zeitzeugin nannte sich selbst stolz »sowjetische Bürgerin«. Dahinter verbarg sich in ihren Augen der große Traum von Brüderlichkeit, Gleichheit und proletarischer Gerechtigkeit für alle. Merridale erinnert aber auch an die andere Wahrheit: Bereits zu Kriegsbeginn waren die Wolgadeutschen als potenzielle Kollaborateure deportiert worden. Im Zuge der Befreiung der von den Deutschen okkupierten Gebiete durch die großen Offensiven der Roten Armee wurden auf Stalins Geheiß ganze Völkerschaften in Sippenhaft genommen und nach Sibirien deportiert, mindestens eine Million Sowjetbürger, darunter Balkaren, Griechen, Inguschen, Kabardinern, Kalmücken, Karatschaiern, Krimtataren, Kurden.

Vor dem Hintergrund der »Säuberungen«, der gewaltsamen Kollektivierung, der rabiaten Durchführung einer sich sozialistisch verstehenden sozialen Umgestaltung und der Besetzung polnischer Gebiete sowie der baltischen Republiken durch die Rote Armee gemäß dem Nichtangriffsvertrag mit Nazideutschland vom 23. August 1939, ebenso heute zur Ukraine oder Belarus gehörender Territorien hätte vermutet werden können, dass die Deutschen dort mehrheitlich und frenetisch als Befreier mit Brot und Salz begrüßt worden wären. Das gab es, und es gab Sowjetbürger, die sich den Deutschen andienten, insbesondere im Baltikum und in der Ukraine an der Ermordung von Juden mitwirkten, eigene Landsleute, vor allem Mitglieder der KPdSU, verrieten. Es gab die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) des Stepan Bandera, die aus Kriegsfangenen zum Militärdienst unterm Hakenkreuz gepressten Soldaten der Wlassow-Armee und eine ganzen Kohorte von »nationalen« SS- und Polizeiverbänden, die vor allem sowjetische Partisanen mordeten. Nach Schätzungen sollen eine Millionen Rotarmisten aus Furcht vor dem fast sicheren Tod in den deutschen Lagern, manche auch aus Hass gegen die Sowjetunion, ihr Land verraten haben.

Kollaborateure waren jedoch die Minderheit. Die Mehrzahl der Sowjetbürger unterschiedlicher Nationalität stand zu ihrem Staat. Die Führung in Moskau hat in diesem Krieg viel unternommen, um die Kampfmoral zu stärken. Nicht zu übersehen war, dass die russische Nation als die bevölkerungsreichste der UdSSR, als Rückgrat des Sowjetvolkes galt. Und doch klang damals und später kein nationalistischer Anspruch des »großen Bruders« gegenüber seinen »jüngeren Geschwistern« durch.

Es sei noch einmal Daniil Granin zitiert. Der Held seines Romans »Mein Leutnant« ist nach dem Untergang der Sowjetunion überzeugt vom »Ende einer Epoche …, einer großen Epoche mit einem großen Traum«. Zugleich lässt der Schriftsteller seinen Protagonisten sagen: »Ich aber denke, dass wir uns nach diesem Land sehnen werden, wir werden wieder und wieder zu meiner Zeit zurückkehren, sie war heroisch und schön. Ihr habt die Fahne mit Hammer, Sichel und Stern heruntergeholt, doch was habt ihr gehisst – den Zarenadler, eine Mutation mit zwei Köpfen, die sowjetische Hymne habt ihr euch angeeignet, aber die Internationale singt ihr nicht mehr.«

Dr. Stefan Bollinger ist Mitglied der Historischen Kommission der Linken.

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