Verhandeln, verhandeln, verhandeln!

Die Chancen auf ein Ende des Krieges steigen, wenn Russland nicht mehr glaubt, gewinnen zu können. Überlegungen zu Voraussetzungen und Konsequenzen

  • Andreas Fisahn
  • Lesedauer: 8 Min.

Wer die Rede Putins zur Rechtfertigung des Angriffs auf die Ukraine las, bekam den Eindruck, dass er die Ebene rationaler Machtpolitik verlassen hat, also das, was realistische Außenpolitik genannt wird: eine Politik, die eigene Interessen weitgehend ohne moralischen Kompass, aber mit nachvollziehbaren Zielen verfolgt und dabei Vorteile und Risiken halbwegs rational kalkuliert. Eine solche Politik wird von den USA mehr oder weniger offen als die ihre propagiert. Putin zweifelt das Existenzrecht der Ukraine an, verfolgt großrussische Machtfantasien und rechtfertigt den Krieg damit, dass die ukrainische Regierung von Nazis beherrscht sei. Kalkulierbare Interessen Russlands sind in einer solchen Argumentation nicht mehr erkennbar. Aber halbwegs rationale Interessen Russlands gibt es natürlich.

Das heißt, es existieren zwei mögliche Ausgangssituationen: Entweder Putin verfolgt eine zynische, aber realistische Außenpolitik oder er hat diese Ebene verlassen und bewegt sich in einer Scheinwelt von Großmachtphantasien, die sein Handeln irrational und unkalkulierbar machen. Beide Alternativen sollte man für Überlegungen, wie der Krieg zu beenden ist, bedenken − wobei niemand weiß, was im Kopf von Putin vorgeht und ob Widersprüche in der russischen Führung existieren und wie groß sie sind.

Geht man von einer Unkalkulierbarkeit der russischen Politik aus, scheint es folgerichtig zu sein, auf einen Sieg der Ukraine zu setzen und das Land entsprechend hochzurüsten. Dann muss man annehmen, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann. Konsequent ist dann auch, die Ukraine mit schweren Waffen auszurüsten. Nebenbei: Wichtiger ist wohl die Frage, ob man es mit Angriffs- oder Verteidigungswaffen zu tun hat.

Es ist Spekulation, ob die Ukraine den Krieg konventionell gewinnen kann. Die russische Armee scheint einerseits nicht so schlagkräftig zu sein wie angenommen. Andererseits sind die russischen Reserven an Mensch und Material enorm. Angenommen, der Ukraine gelingt es, die russische Armee zurückzudrängen, so ist nicht auszuschließen, dass Putin am Ende kleine oder große Atomwaffen einsetzt. Manche werden sagen, das ist nur Säbelrasseln, so verrückt ist er nicht – aber vor einem Einmarsch in die Ukraine hätten auch nur wenige damit gerechnet, dass Putin das Land wirklich überfallen lässt.

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Die Drohung, Atomwaffen einzusetzen, ist ausgesprochen. Selbst wenn nur die Ukraine direkt mit Atomwaffen zerbombt würde, wären große Teile Europas auf lange Sicht radioaktiv verseucht, was natürlich auch Russland betrifft. Die USA wären nicht tangiert. Zynisch könnte man sagen: Sie sind gleich zwei Konkurrenten auf einen Schlag losgeworden. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärte es zum Interesse der USA, Russland massiv zu schwächen. Das passt zur strategischen Ausrichtung nach Asien, in die neue Konkurrenz mit China. Baerbock hat sich der Position von Austin angeschlossen. Nicht bedacht hat sie offenbar ein Szenario, bei dem Atomwaffen eingesetzt werden, was umso wahrscheinlicher wird, je mehr sich der russische Bär in die Ecke gedrängt fühlt.

Die Alternative ist eine Verhandlungslösung. Dagegen wird argumentiert, dass man vergeblich versucht habe, mit Putin zu verhandeln. Wenn er irrational agiert, stoßen diplomatische Interventionen wahrscheinlich an ihre Grenzen. Ein Dilemma, auf das auch der Philosoph Jürgen Habermas hingewiesen hat. Dilemmata werden durch ihre Ausweglosigkeit definiert. Dabei kann man aber nicht stehen bleiben und ist darauf verwiesen, Auswege zu suchen, wie problematisch und unwahrscheinlich sie auch sein mögen. Dann dürfen die europäischen Staaten keinesfalls nur auf eine Hochrüstung der Ukraine setzen, sondern sie müssen den anderen Ausweg – verhandeln, verhandeln, verhandeln – mindestens parallel versuchen. Die Anstrengungen seitens der Bundesregierung und der EU sind in dieser Hinsicht leider eher bescheiden.

Man müsste schlicht alle Kanäle nutzen, die noch offen oder zu öffnen sind. Jan van Aken hat Waffenlieferungen in »nd.DieWoche« als Politikersatz bezeichnet und vorgeschlagen, die bisher neutralen Staaten China und Indien als Vermittler zu gewinnen. Das wäre eine Alternative. Und auch wenn man die Politik von Gerhard Schröder und ihn persönlich zutiefst abstoßend findet: In der gegenwärtigen Situation ist auch das ein Kanal, der zu nutzen wäre und nicht moralinsauer kommentiert werden darf.

Chancen für Verhandlungen kann es nur geben, wenn Putin oder andere in der russischen Führung erkennen, dass Russland nicht gewinnen kann. Auch wenn man annimmt, dass die Ukraine nicht gewinnen kann, folgt daraus nicht, dass Russland gewinnt. Die jüngere Geschichte zeigt, dass ein militärischer Sieg längst nicht in die Lage versetzt, das Land zu beherrschen und zu befrieden. Also darf die Ukraine die militärische Auseinandersetzung auch nicht verlieren, was die Versorgung mit Defensivwaffen rechtfertigt.

Die alternative Ausgangssituation, Russland verfolgt rationale Interessen im Sinne einer »realistischen Außenpolitik«, wird mehr oder weniger ignoriert und als Putin-Versteherei abgekanzelt. Das ist unklug, wenn das Ziel ist, das Sterben zu beenden, und nicht, Russland für immer zu schwächen. Welche Interessen werden diskutiert? Da ist zunächst das Sicherheitsinteresse Russlands, das durch eine Westintegration der Ukraine tangiert sein könnte, insofern als die atomare Zweitschlagskapazität Russlands auf dem Spiel steht, wenn Mittelstreckenraketen diese ohne ausreichende Vorwarnzeit zerstören könnten. Problematisch ist dieses Argument, weil die baltischen Staaten, allesamt Nato-Mitglieder, ebenfalls an Russland grenzen. Dennoch ist verständlich, dass die Osterweiterung der Nato das russische Sicherheitsempfinden tangiert. Weiter werden wirtschaftliche Interessen Russlands erörtert. Zumindest die Industrieregionen der Ostukraine sind für Russland wirtschaftlich interessant. Der schon ältere Konflikt um die West- oder Ostintegration der Ukraine hat das deutlich gemacht.

Wenn so die Interessen Russlands hinter der Aggression aussehen sollten, sind Verhandlungslösungen deutlich leichter als unter der Voraussetzung, dass es um irrationales Großmachtstreben geht. Man könnte dann vereinbaren, dass die Ukraine militärisch neutral bleibt und ein wirtschaftlicher Austausch mit beiden Seiten stattfindet. Solche Vorschläge, wird berichtet, seien von Putin zurückgewiesen worden, wobei unklar bleibt, was genau vorgeschlagen wurde und wie die Reaktion exakt war. Das ist das Problem der Berichterstattung im Krieg – die Medien werden schnell Partei; in diesem Krieg in einem Ausmaß, das nur noch erschreckend ist. Umgekehrt hat die Nato, insbesondere ihr Generalsekretär, vor dem Einmarsch bocksbeinig darauf bestanden, dass die Ukraine selbst entscheiden müsse, ob sie der Nato beitritt oder nicht. Vermutlich ist Bewegung auf beiden Seiten erforderlich. Die Aufrüstung der Ukraine und das Angebot, sie in die EU aufzunehmen, sind unter diesen Bedingungen allerdings geradezu kontraproduktiv, weil sie genau die beschriebenen Befürchtungen Russlands verstärken. Auch unter dieser Bedingung gilt es, alle Kanäle zu nutzen, um zu Verhandlungslösungen zu kommen.

Nicht nur die Übernahme der Krim, auch die Aufteilung Jugoslawiens hat deutlich gemacht, dass es im Völkerrecht ein ungeklärtes Verhältnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Integrität des Staates gibt. Deshalb muss mittelfristig die Frage der rechtmäßigen Separation oder Sezession völkerrechtlich gelöst werden. In der Geschichte gibt es viele Beispiele, dass sich bestimmte Territorien von ihrem Staat getrennt haben und einen eigenständigen Staat proklamiert haben. Durchgesetzt hat sich dabei in der Regel das Recht des Stärkeren und nicht die Stärke des Rechts. Das Recht auf Sezession ist völkerrechtlich umstritten, eben weil es keine klaren Vereinbarungen gibt. Das führt entweder zu zivilen Konflikten wie in Katalonien, Quebec oder Schottland. Oder es führt zu brutalen Kriegen und gewalttätigen Auseinandersetzungen wie im ehemaligen Jugoslawien oder in der Türkei. Völkerrechtliche Regeln sind notwendig, mit denen sich das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder einer Region umsetzen ließe, ohne durchsichtige Argumente wie die Verletzung der Integrität eines Staates oder umgekehrt die zulässige Selbstbestimmung zu bemühen.

Das führt zwingend zu einem Wort über die nervende Scheinheiligkeit der Diskussion: Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist nicht der erste Krieg, der seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa geführt wird. In den 1990er Jahren hat ein brutaler Krieg in Jugoslawien, eben um die Aufspaltung des Staates in viele kleinere Staaten, getobt. In dem Krieg gab es – nach Schätzungen der Landeszentrale für politische Bildung Baden Württemberg − mehr als 200 000 Tote. Jugoslawien lag bekanntlich mitten in Europa. Und die Nato beteiligte sich an diesem Krieg und zwar völkerrechtswidrig, weil sie weder angegriffen wurde noch sich auf ein UN-Mandat stützen konnte, als sie gegen Serbien intervenierte.

Und Kriegsopfer sind Kriegsopfer – Empathie und Anteilnahme sollten unteilbar sein. Aber wo ist die ausführliche Berichterstattung über die Toten und Verletzten der vielen Irak-Kriege, wo die Solidarität mit den Jemeniten oder Sudanesen? Wo wird immer wieder betont, dass der Angriff der USA auf den Irak, Grenada, Panama usw. usw. völkerrechtswidrig war? Baerbock irrt gewaltig, wenn sie meint, »der Westen«, das seien die Staaten, die sich an das Völkerrecht gebunden fühlen. Nicht nur Russland und China haben den Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof nicht ratifiziert; das Gleiche gilt für die USA. Wo ist der Ruf nach Waffenlieferungen an die Kurden in Syrien, die von Erdogan – gleichsam im Schatten des Ukraine-Krieges – bombardiert werden?

Habermas meint unterschiedliche Mentalitäten der älteren und jüngeren Generation in Deutschland mit Blick auf den Krieg erkennen zu können. Es könnte auch sein, dass in Teilen der Diskussion ein gleichsam phylogenetischer Russlandhass durchbricht, der Grundlage der Kontinuität zwischen der Nazi-Diktatur und der Adenauer-Ära war und in den maoistischen Verirrungen an den Wurzeln der Grünen durchbrach. Hilfreich sind solche Reflexe in der gegenwärtigen Situation nicht. Die jüngere Generation hatte inzwischen – ähnlich wie die ältere mit Blick auf Frankreich – ein Interesse an der russischen Kultur, Geschichte usw. entwickelt. Daran sollte man anknüpfen.

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