Druck auf tunesischen Präsident wächst

Bei Großdemonstration wenden sich Tunesier gegen Kais Saied und dessen Gegner

  • Mirco Keilberth, Tunis
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Sonntag protestierten im Zentrum von Tunis mehr als 4000 Gegner von Präsident Kais Saied gegen dessen zunehmende Machtfülle. Anhänger der moderaten Islamistenpartei »Ennahda« und kleinere Oppositionsgruppen gehen seit Monaten als Koalition »Muatinun Dida Al-Inqilab« (Bürger gegen den Putsch) auf die Straße. In Sprechchören und auf Schilder forderten sie auf der Flaniermeile Avenue du Bourguiba eine Rückkehr des abgesetzten Parlaments.

Auf dem bisher größten Protestzug warfen Redner dem ehemaligen Juraprofessor Saied vor, mit der Absetzung der Abgeordneten am 25. Juli vergangen Jahres einen Putsch gegen die Demokratie gestartet zu haben. Am Wochenende zuvor hatten Kais Saids Anhänger gegen die moderaten Islamisten demonstriert, die an allen elf Regierungen nach der Revolution beteiligt waren.

Die abwechselnden Straßenproteste beider Seiten symbolisieren die aktuelle politische Pattsituation im ehemaligen Vorzeigeland des sogenannten Arabischen Frühlings. Doch seit der coronabedingten Wirtschaftskrise stehen sich Politiker der ehemaligen Regimeanhänger, die Wirtschaftselite, Arbeitslose aus der Provinz und die aus dem Exil zurückgekehrten Ennahda-Führung kompromisslos gegenüber.

Als im vergangenen Sommer die Covid-Infektionszahlen auf einen weltweiten Höchststand geklettert waren und Patienten auf Parkplätzen vor den Krankenhäusern zu Hunderten starben, griff Saied zu einem umstrittenen Kunstgriff: Er schickte das Parlament in die Sommerpause und strich die Immunität der Abgeordneten. Dutzende von der Justiz wegen Korruption angeklagte Abgeordnete wurden unter Hausarrest gestellt. Anstatt aber gegen das Ende der parlamentarischen Kontrolle zu protestieren, feierte die überwiegende Mehrheit der Tunesier auf den Straßen.

Seit Herbst widmet sich der 64-jährige Saied der Umwandlung des 2014 reformierten Parlamentssystems in ein basisdemokratisches Modell – mit starker präsidentieller Macht nach französischem Vorbild. Für Juli hat er eine Volksabstimmung über die Verfassung angekündigt. Noch ist aber unklar, welche Änderungen zur Wahl stehen und auf welcher rechtlichen Grundlage diese erarbeitet wurden. An der im Januar gestarteten Online-Debatte darüber hatten sich nur wenige Menschen beteiligt.

Nach zwei ausgefallenen Touristensaisons kämpfen viele tunesische Familien ums finanzielle Überleben. Die Lebensmittelpreise sind nach dem Ausfall der Weizenlieferungen aus der Ukraine teilweise um das Dreifache gestiegen. Auch die Preise der vom Staat subventionierten Lebensmittel und Dienstleistungen explodieren; zuletzt kündigte der Stromkonzern Steg eine Erhöhung der Tarife an. Ohne Kredite des Internationalen Währungsfonds oder der Europäischen Union fürchten Finanzexperten sogar einen Staatsbankrott. Mehrere enge Präsidentenberater haben in den vergangenen Monaten das Handtuch geworfen. Seine engste politische Beraterin, Nadia Akacha, bezeichnete den Präsidenten nach ihrer Demission als inkompetent. Im Präsidentenpalast habe eine Gruppe von Lügnern die einmalige Chance für einen historischen Wandel Tunesiens vertan, schrieb sie auf ihrer Facebook-Seite.

»Viele Tunesier lehnen die Maßnahmen und das Verhalten von Kais Saied ab, die Oppositionskräfte jedoch noch stärker. Nach der Untätigkeit des Parlaments während der Corona-Krise und den kriminellen Machenschaften einiger Parteien ist der politische Diskurs im Land praktisch tot«, sagt ein ehemaliger Mitstreiter von Saied dem »nd«. Er teilt Saieds Abscheu der seit 2011 entstandenen politischen Parteien und dessen Idee einer lokalen Basisdemokratie. Doch die Absetzung mehrerer Gouverneure, die Neubesetzung der obersten Richter- und Wahlkommission mache ihm Angst. Nach der Verhaftung mehrerer Said-kritischer Journalisten möchte er seinen Namen nicht gedruckt sehen.

Kais Said sucht nun neue Verbündete. Er reiste am Wochenende in die Vereinigten Arabischen Emirate zur Beerdigung des verstorbenen Präsidenten Scheich Khalifa Zayed Al-Nahyan. Aus Delegationskreisen sickerte durch, dass auch Gespräche über die Gewährung finanzieller Hilfe geführt wurden.

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