Ebbe an den Küsten der Weltmeere

Mit blauem CO2 und Gezeitenfeuchtgebieten gegen den Klimawandel

  • Michael Lenz
  • Lesedauer: 4 Min.

Global rasant steigende CO2-Emissionen sind der Treiber für Klimawandel und Erderwärmung mit zerstörerischen Auswirkungen auf das Leben und die Ökosysteme unseres Planeten. Da klingt »blaues CO2« irgendwie schön. »Blau« weckt Assoziationen, erinnert an die Künstlergruppe »Blaue Reiter«, die »blaue Stunde« als Bezeichnung für die romantische Zeit kurz vor Sonnenaufgang beziehungsweise kurz nach Sonnenuntergang oder eine fröhliche »Fahrt ins Blaue«.

Mit Romantik aber hat das »blaue CO2« nichts zu tun, sondern das ist lediglich die Bezeichnung für CO2, das von Wasser und Gezeitenfeuchtgebieten gebunden wird. Um letztere als wichtige Kohlenstoffdioxidsenken soll es hier gehen und darum, dass diese Gezeitenfeuchtgebiete – Marschland, Watt und Mangrovenwälder – weltweit einerseits immer weniger werden, sich aber andererseits auch natürlich erneuern können.

In den letzten zwei Jahrzehnten gingen weltweit 13 600 Quadratkilometer Gezeitenfeuchtgebiete verloren. Gleichzeitig entstanden 9600 Quadratkilometer solcher Feuchtgebiete neu. »Die Nettoveränderung der Feuchtgebieten ist immer noch in einem überwältigenden Minus«, sagt Nick Murray dem »nd«. Der Wissenschaftler von der James-Cook-Universiät im australischen Bundesstaat Queensland war Leiter einer Forschungsgruppe, die im Mai 2022 im Fachjournal »Science« eine Studie zur Gewinn- und Verlustbilanz jener Feuchtgebiete veröffentlicht haben, die ihre Existenz dem Wechsel von Flut und Ebbe verdanken.

Mit Hilfe einer maschinelle Lernanalyse riesiger Archive von mehr als einer Millionen Satellitenbilder haben die Wissenschaftler in dem Projekt »Global Intertidal Change« Ausmaß, Zeitpunkt und Art der Veränderungen in den globalen Gezeitenfeuchtgebieten zwischen 1999 und 2019 erfasst und dokumentiert. Etwa drei Viertel des weltweiten Nettorückgangs von Gezeitenfeuchtgebieten ereignete sich demnach in Asien und davon fast 70 Prozent in Indonesien, China und Myanmar.

In Asien, so Murray, seien direkte menschliche Aktivitäten wie Landwirtschaft, die Schaffung neuer Plantagen und Urbanisierung die wesentliche Ursachen für die Verluste von Gezeiten-Feuchtgebieten. Diese Aktivitäten spielten in Europa, Afrika, Amerika und Ozeanien eine geringere Rolle bei den Verlusten von Gezeitenfeuchtgebieten. Dort würden indirekte Faktoren wie »die Migration von Feuchtgebieten, Küstenmodifikationen und Änderungen im Einzugsgebiet« die Dynamik von Küsten-Feuchtgebieten antreiben.

Neubildung von Feuchtgebiete ist nach Erkenntnissen des Forscherteams einerseits Ergebnis Erhaltungsmaßnahmen und der Unterstützung der natürlichen Regeneration. Andererseits aber eben durch die Verschiebung von Feuchtgebieten. »Die Dynamik von Gezeitenfeuchtgebieten ist außergewöhnlich komplex. Neben einer Vielzahl von Prozessen, die ihre Verluste verursachen, gibt es eine Reihe von Prozessen, die es Küstenökosystemen ermöglichen, an Ausdehnung zu gewinnen. Dazu gehören einfache Bewegungen als Reaktion auf die Küstendynamik – Sedimente werden erodiert und remobilisiert und schließlich an anderer Stelle abgelagert. Schließlich können diese neuen Sedimentgebiete neue Gezeitenfeuchtgebiete bilden«, erklärt Murray.

Nun könnte man fragen: Wo ist das Problem? Ein bisschen Schwund ist schließlich immer und die Natur ist ja offenbar in der Lage, die Verluste zumindest teilweise auszugleichen. Küstenökosysteme sind aber für die Menschheit von entscheidender Bedeutung. Für die rund eine Milliarde – oder etwa 11 Prozent der Weltbevölkerung – in den tiefliegenden Küstengebieten lebenden Menschen erbringen sie lebenswichtige Ökosystemleistungen: Sie wirken zum Beispiel als Puffer vor Stürmen und dem Anstieg des Meeresspiegels und speichern große Mengen Kohlenstoff Zudem dienen sie als Kinderstuben vieler Meerestiere und sind damit die Grundlage für Fischerei und Ernährung.

Der Wert dieser Küstensysteme lässt sich auch monetär messen. Die Küstenökosysteme seien milliardenschwere CO2-Speicher, hieß es in einer 2021 in der Fachzeitschrift »Nature« veröffentlichten Studie. »In Geldwerten ausgedrückt realisieren die drei Länder jährliche Wohlfahrtsgewinne in Höhe von rund 26,4 Milliarden US-Dollar (Indien), 16,6 Milliarden US-Dollar (China) und 14,7 Milliarden US-Dollar (USA) dank der weltweiten globalen Küstenökosysteme und den daraus resultierenden geringeren Klimafolgekosten«, sagte Wilfried Rickels vom Kieler Institut für Weltwirtschaft, einer Autoren der Studie. Rickels betonte aber auch, dass der monetäre Gewinn der Kohlenstoffspeicherung nur einen kleinen Teil der positiven Auswirkungen der Küstenökosysteme für die Menschen ausmache.

Für den Schutz und Erhalt von Gezeitenfeuchtgebieten sind konkrete Daten über Schwund und Zugewinn unerlässlich und da kommt das Projekt von Murray und Kollegen wieder ins Spiel. Für die globalen Schutzziele werde eine Bestandsaufnahme der Ökosysteme immer bedeutsamer, so Murray. »Unser Überwachungssystem ermöglicht nicht nur einen tieferen Einblick in die Veränderung der Gezeitenfeuchtgebiete der Erde. Es bereitet auch den Weg für die Entwicklung ähnlicher Systeme für eine Reihe anderer Ökosystemtypen. Die Überwachung des Typs, des Zeitpunkts und der Treiber von Veränderungen können dazu beitragen, ihre Erhaltung zu verbessern.«

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