- Kultur
- "Vor Sonnenaufgang"
Selbstbespiegelung und Exorzismus
Beim Performing Arts Festival Berlin wurde »Vor Sonnenaufgang« gezeigt – von Eindeutigkeiten befreit
»Voll alt« sei das Stück, 1889 geschrieben, das sei »ganz schön lang her«, heißt es von der Bühne, womit die Performer die Strategie, mit der sie Gerhart Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang« begegnen, gleich zu Beginn offenlegen. Nein, sie werden nicht, wie es vielerorts immer noch üblich ist, eine Aktualität reklamieren, werden nicht behaupten, der Text sei »immer noch« oder gar »gerade jetzt« aktuell, als wäre das Stück seiner Zeit Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte voraus gewesen und hätte nun, da die Wirklichkeit endlich in den Zustand gefunden hat, in dem sie der Literatur entspricht, eine Heimat in der Gegenwart. Im Gegenteil wird es selbst als Problem dargestellt, da es mit seiner Rückständigkeit unsere Zeit belastet.
Dieses Vorgehen gilt dieser Tage als progressive Art, einem Klassiker zu begegnen: ihn als überholt darstellen und seine fortwährende Popularität und Wirkung kritisieren. Ganze Karrieren von Regisseuren und Autoren bauen auf diesem Kampf gegen den Kanon auf. Der deutschtümelnde und antisemitische Richard Wagner ist ein beliebter Gegner, aber auch Kleist, Schiller und sogar Goethe. Gerhart Hauptmann ist ein vergleichbar leichtes Opfer wegen seiner persönlichen Lebensgeschichte. Der Literaturnobelpreisträger war zwar in der Weimarer Republik im Gespräch für hohe Ämter, suchte später jedoch durchaus die Nähe zu Nazi-Größen. Der einstige Freund und Förderer Alfred Kerr verfluchte ihn aus dem Exil.
Um diese Verfehlung des Autors aber geht es nicht in der Inszenierung, die Sophie Blomen, Vera Moré und Max Reiniger bestreiten. Die drei haben sich beim Studium an der Universität Hildesheim kennengelernt, eines der Ausbildungszentren der freien Theaterszene. Sie kritisieren den Umgang Hauptmanns mit dem Alkoholismus. Das Stück erzählt von einer Bauernfamilie, die mit Glück zu Geld kam und doch nicht glücklich sein kann. Bis auf Helene, eine Tochter des Familienoberhaupts, sind sie alle dem Suff verfallen. Ein Jugendfreund von Helenes Schwägerin platzt in die familiäre Einöde. Alfred Loth ist sozialrevolutionär gestimmt und will die Situation der Arbeiter in der Region erforschen und verbessern. Ein Held aber sieht anders aus. Erst verdreht er Helene den Kopf, lässt sie dann aber sitzen, weil er fürchtet, sie könnte den Alkoholismus an die künftigen gemeinsamen Kinder weitergeben.
Am Anfang stellt sich Sophie Blomen als »Initiatorin« des Theaterabends vor und gibt auch gleich ihre Begründung für die Wahl des Stoffes preis. Ihr Vater starb vor einigen Jahren an den Folgen seiner Alkoholsucht. Auch dies ist ein bekanntes Verfahren: Der Bezug der Künstlerinnen zum Thema wird in den letzten Jahren immer häufiger zum eigentlichen Ausgangspunkt von Theateraufführungen. Man erfährt bisweilen mehr über die Biografien der Spieler als über das Figurenpersonal eines Stücks.
Dieser Impuls ging von der freien Szene aus, hat aber längst auch die Stadt- und Staatstheater erreicht. Die einstmals, vor allem von den freien Künstlern, offensiv vertretene Differenz dieser beiden Säulen des deutschsprachigen Theaters ist mittlerweile eingeebnet. Zuvor hatten sich die Kollektive geradezu als ein Gegenstück zu den hochsubventionierten Tankern verstanden, die in ihren Augen künstlerisch wie politisch rückständig arbeiteten. Mittlerweile aber sind die Stadttheater häufig Anlaufpunkte für die bekannteren Akteure der freien Szene, schätzen doch auch diese die größere Sichtbarkeit, ganz zu schweigen von den finanziellen Mitteln und der technischen Ausstattung.
Hier, im Ballhaus Ost in Berlin, mag es hingegen noch irritieren, wenn der Titel eines kanonischen Stückes auf dem Spielplan steht. Zumal im Rahmen des Performing Arts Festivals, der großen Werkschau der freien Szene. Sechs Tage lang bespielen Gruppen die Bühnen der Stadt, formen ein kaum zu überblickendes Wimmelbild von dem, was sich vor allem junge Theatermacher für die Zukunft des Theaters vorstellen. »Vor Sonnenaufgang« ist aus diesem Programm herausgehoben; die Produktion läuft in der Sparte »Introducing«, wurde also, anders als viele Gruppen, die sich lediglich anmelden mussten, von den Leitungen der beteiligten Theater ausgewählt, ihre Arbeit prominent auf dieser Bühne zu zeigen. Ausgerechnet mit einer Hauptmann-Inszenierung. Sie werden doch nicht etwa – praktisch undenkbar in der freien Szene – das Stück in Szene setzen, gar spielen, die Rollen verkörpern? Tatsächlich probieren die drei Performer versuchsweise ein paar Szenen aus, sprechen auch ein paar Sätze aus dem Originaltext, jedoch auf betont verfremdete Weise. Immer wieder fragt Helene ihren Geliebten beim gemeinsamen Essen mit ihrer Familie, warum er denn nicht trinke, woraufhin Max Reiniger als Loth in rasender Geschwindigkeit eine Begründung herunterrattert, in eine Kiste steigt, den Deckel schließt und, als er wieder gefragt wird, aus der Kiste heraus immer weiter von Alkoholismus und der moralischen Verkommenheit spricht. Die Performer erzählen, worum es für sie in der Szene geht. Helene ist hin- und hergerissen. Einerseits fühlt sie sich zu Loth hingezogen und sieht in ihm einen Ausweg aus dem tristen Leben im Kreis ihrer Familie. Andererseits ist Loths ganze Präsenz ein Angriff auf diese. Seinem Beispiel zu folgen, hieße, die eigene Herkunft zu verraten.
Sophie Blomen steuert in einigen autobiografischen Passagen ihre Erfahrungen mit einer vom Alkoholismus getroffenen Familie bei. Sie erzählt von schönen Erlebnissen mit ihrem Vater, wie sie zusammen kochten, wie seine Hand zitterte, als er ihr Tee einschüttete, wie er sich dafür entschuldigte. Er hatte an diesem Tag nicht getrunken, weil sie zu Besuch war. Sie beschreibt, wie das Schnitzel geschmeckt hat, sie erinnert sich genau. Ist da nicht Glück erkennbar? Und wenn ja, müsste dieses Glück nicht auch bei Hauptmann vorkommen? Ist der Naturalismus, diese literarische Agenda, die Verhältnisse ungeschönt zu zeigen, nicht schon deshalb defizitär, weil das Schöne sich nicht restlos wegkürzen lässt?
Man kann die Figur der Helene als Blomens – literarisch verzerrtes – Spiegelbild betrachten. Die Annahme, Alkoholismus sei vererbbar, ist zwar inzwischen überholt, doch ist die Sucht weiterhin auch für die Kinder der Betroffenen ein Stigma, eine Einladung, ihre Lage auf eine bestimmte Weise zu verstehen und sie damit den Betroffenen selbst aus den Händen zu nehmen. Hierin finden die drei Performer die Aktualität des Stoffes, im mächtigen Blick der anderen auf ein Leben, das doch für sich selbst gelebt werden will. »Je öfter du etwas erzählst, umso häufiger ändern sich die Erzählungen auch«, heißt es. Das Bühnenbild, ein Podest, darauf in Blau gehaltene Hocker und Kisten, wird in einer Szene von Scheinwerfern in wechselnde Farben getaucht, als würden seit Jahrzehnten in Laken geschlagene Möbel neu geordnet. Dieser »Sonnenaufgang« erweist sich als ein sanfter Exorzismus, der ein Thema von seinen Eindeutigkeiten befreien will.
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