Ostsee unter Stress

Wie ein Meer sich erholt. Das Institut für Ostseeforschung sorgt für Daten zum Wasserzustand

  • Jacqueline Myrrhe
  • Lesedauer: 8 Min.
Forschungsschiff "Elisabeth Mann Borgese" bei Messfahrten auf der Ostsee
Forschungsschiff "Elisabeth Mann Borgese" bei Messfahrten auf der Ostsee

Sie sind ein Touristenmagnet an der Ostsee: die Kutter der Küstenfischer. Sie verkaufen vom Boot aus fangfrischen Fisch oder Fischbrötchen. Doch ihr Blick in die Zukunft ist sorgenvoll. Der Verband der Küstenfischer hat sich vergangenes Jahr aufgelöst. Von den einst 600 Fischereibetrieben gibt es noch 200. Die Bestände von Dorsch und Hering in der westlichen Ostsee sind stark geschrumpft. Die erlaubte Quote kann an einem guten Tag abgefischt werden. Selbst Freizeitfischer dürfen nur außerhalb der Schonzeit Dorsch fangen: einen pro Tag!

Binnenmeer mit spezieller Charakteristik

Es ist nicht ganz klar, warum die Netze leer bleiben. Kormorane und Robben werden verdächtigt. Sehr wahrscheinlich spielt der Klimawandel eine Rolle. Welchen Einfluss die Eutrophierung hat, ist nicht sicher. Von überdüngten Feldern der Landwirtschaft, aber auch aus anderen menschlichen Quellen gelangen über Flüsse oder sogar die Atmosphäre zusätzliche Nährstoffe in die Ostsee. Die Folge ist ein übermäßiges Algenwachstum. Dadurch kommt weniger Licht zu den Wasserpflanzen und die Zersetzung der abgestorbenen Algen raubt Meerestieren den Sauerstoff. Am Ende dieses Prozesses entstehen biologisch tote Zonen in der Ostsee. In der ersten Dekade dieses Jahrhunderts gehörten geschätzte 10 bis 25 Prozent des Ostseebodens dazu. Liegen diese Zonen in den Laichgebieten der Fische, kollabiert vermutlich die Vermehrung. Hinzu kommen andere natürliche Faktoren. Die Ostsee hat eine relativ geringe Tiefe und somit ein vergleichsweise geringes Wasservolumen. Die Wasserzirkulation ist derart träge, dass nur alle 30 Jahre ein kompletter Wasseraustausch stattfindet.

Noch im Jahr 2010 hatte die Ostsee den Ruf des am meisten verschmutzten Meeres der Welt. Neben der Eutrophierung setzten der Ostsee industrielle Schadstoffe aus den neun Anrainerstaaten zu, darunter Schwermetalle, wie zum Beispiel Blei, Cadmium und Quecksilber. Dazu kommen Hinterlassenschaften der beiden Weltkriege – versenkte Munition, verrostende Giftgasgranaten und Wracks.

Weitsichtiges Verantwortungsbewusstsein

Ein langer Atem und konzertiertes internationales Bemühen haben die Ostsee auf einen guten Weg gebracht. Es gibt Grund zu vorsichtigem Optimismus, ist Marion Kanwischer, Leiterin des Labors Organische Stoffe und Technische Leiterin der Analytik-Gruppe am Leibniz-Institut für Ostseeforschung in Warnemünde (IOW), überzeugt. Die Wissenschaftlerin sieht bei ihren Wasseranalysen, dass die Konzentrationen einst viel verwendeter Stoffe wie etwa die krebsauslösenden Polychlorierten Biphenylen (PCB) oder das Insektizid DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan), durch Verbote stark gesunken sind.

Der Grundstein für diesen Erfolg wurde 1974 mit der »Helsinki-Konvention zum Schutz der Ostsee« gelegt. In den politisch brisanten Zeiten des Kalten Krieges unterzeichneten die damals sieben Ostsee-Anrainerstaaten das gemeinsame Abkommen, welches seitdem unter Leitung der »Kommission für den Schutz der Meeresumwelt des Ostseegebiets« (»Helsinki-Kommission«, kurz: HELCOM) kontinuierlich angepasst und fortgeführt wurde. Der »Helsinki-Konvention« lag die Überzeugung zugrunde, dass die Ostsee mit ihrer besonderen »Binnenmeer«-Charakteristik nur als ganzheitliches Ökosystem zu betrachten und zu schützen ist. Von der festgeschriebenen Verpflichtung zur Reduzierung der Schadstoffe profitieren Mensch und Umwelt bis heute.

Ob dieser Prozess durch die gegenwärtige politische Lage in Europa in Gefahr ist, ist schwer abzuschätzen. Durch den Krieg in der Ukraine hat die HELCOM alle offiziellen Treffen und Beratungen zunächst bis Ende Juni ausgesetzt. Nach Auskunft der HELCOM-Pressestelle in Helsinki sei dies eine schwierige Situation. Zum einen stünden Budget-Entscheidungen an und zum anderen richte sich die Umwelt nicht nach der Politik. Man hoffe, dass die Kooperation im vollen Umfang fortgesetzt werden könne, wann jedoch, vermag momentan niemand zu sagen. Die Ostsee ist auf die gemeinsamen Anstrengungen aller Anrainer angewiesen, um die erreichten Erfolge nicht aufs Spiel zu setzen. Darum sei man froh, dass die informelle Zuarbeit von russischen Umweltdaten aufrechterhalten werden könne.

Eigentlich sollte Ende März 2022 auf dem Baltic Sea Day Forum 2022 in St. Petersburg der im November 2021 beschlossene »HELCOM Ostseeaktionsplan« für den Zeitraum 2021 bis 2030 (»HELCOM Baltic Sea Action Plan«) diskutiert werden. Ziel des Aktionsplans ist die deutliche Reduzierung von Mikroplastik, Einwegkunststoffprodukten sowie der Eutrophierung. Für den Schutz von marinen Arten und Lebensräumen soll bis 2030 ein Drittel der Ostsee unter strengem Schutz stehen. Das wäre eine Verdoppelung der gegenwärtigen Fläche. Die HELCOM-Partner Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Polen, Russland, Schweden sowie die EU sind sich einig, dass das Ökosystem Ostsee intakt bleiben muss. Darum wurde explizit festgehalten, dass der wirtschaftliche Aufbau nach der Coronakrise nicht zulasten von Klima- und Meeresschutz gehen darf.

Erstmalig gibt es Aktionen zur Verringerung von Unterwasserlärm und Störungen des Meeresbodens. Ein Novum ist, dass die Anrainer übereinkamen, vereint gegen die Munitionsaltlasten aus den Weltkriegen vorzugehen.

Ein Großteil der HELCOM-Daten zu Wasserqualität und ökologischem Zustand der deutschen Ostsee werden von den Warnemünder Forschenden im Auftrag des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie Rostock erhoben. Dieses leitet sie dann an die HELCOM weiter, erklärte IOW-Sprecherin Kristin Beck. Das IOW sei das einzige deutsche Forschungsinstitut, das sich schwerpunktmäßig mit den Prozessen im Gesamtsystem Ostsee beschäftige. Auch bei der Forschung zu Mikroplastik in der maritimen Umwelt, einem weltweiten Problem, auf das man vor rund fünf Jahrzehnten erstmals aufmerksam wurde, gehört das Warnemünder Institut zu den führenden Einrichtungen. Dabei ist die Wissenschaft damals eher per Zufall auf die Kunststoffpartikel gestoßen, denn mit weniger als fünf Millimetern Durchmesser und von einem Biofilm überzogen, sind sie nicht einfach als Plastikmüll zu erkennen. Dies gelang erst, als eine Wasserprobe bis auf die letzten Komponenten analysiert wurde. Mikroplastik findet sich häufig in Kosmetik. Aber auch das Waschen von Kleidung aus Kunstfasern oder der Abrieb von Autoreifen setzt kleinste Fragmente frei, die über den Wasserkreislauf in Flüsse und Meere gelangen.

Das heutige IOW mit seinen ungefähr 260 Mitarbeitern ist aus dem einstigen Warnemünder »Institut für Meereskunde« der Akademie der Wissenschaften der DDR, hervorgegangen. Es war eines der fünf wissenschaftlichen Forschungsinstitute im Nordosten der Bundesrepublik, die Anfang der 1990er Jahre in die »Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz« oder kurz: »Leibniz-Gemeinschaft« integriert wurden. Der Forschungsverbund ist auf interdisziplinäre Grundlagenforschung sowie Anwendungen ausgerichtet, getreu dem Leitmotiv des Namensgebers. Leibniz prägte das Bild von der Einheit der Wissenschaften. Er stellte das Befruchtende und Ergänzende der einzelnen Disziplinen in den Vordergrund. Forschung ist ein Service für die Gesellschaft. Diese Grundsätze passen zum Selbstbild der auf Eigenverwaltung, Unabhängigkeit, intensiven internen und akademischen Austausch, inhaltliche Verzahnung, Innovation und Spitzenforschung, kontinuierliche Evaluierung und gesellschaftliche Wirksamkeit zielenden Leibniz-Gemeinschaft.

Kreative Akribie

Daher machte es Sinn, die Ostseeforschung in das Spektrum der Leibniz-Institute einzuordnen. Es geht ja nicht nur um sauberes Badewasser für Ostsee-Touristen. Nahrungsmittelerzeugung, Handel, Industrie und Siedlungen sind auf eine gesunde Ostsee angewiesen, nicht nur an deutschen Küsten. Für eine verlässliche Bewertung der Schadstoffkonzentrationen bedarf es einer soliden Datengrundlage. Fakt ist auch, betonte IOW-Forscherin Kanwischer: »Die Konzentrationen einiger Schadstoffe in der Ostsee sind zwar gesunken, aber neue kommen hinzu«. Menschliche Aktivität rücke Neues ins Bewusstsein, worauf dann mehr Aufmerksamkeit verwendet würde.

Die Wissenschaftlerin und ihr Team sehen ihre Aufgabe darin, passende Methoden zu entwickeln, um den Grad der Kontaminierung zu messen. Dabei sind viel Kreativität und Geduld und eine nie versiegende Neugier gefragt, denn für bislang nicht betrachtete Stoffe gibt es oft auch noch keine Messmethoden.

Der Ansatz für die Suche nach der Lösung sei die klassische, wissenschaftliche Methode. Ausgehend von einer Problemstellung würde eine Hypothese aufgestellt, anhand derer geprüft würde, welche Methode zu welcher Antwort führen könne. Stehe das Gedankengerüst, beginne die technische Durchführung. Es müsse überlegt werden, welche Parameter und Substanzen man überhaupt messen und nachweisen wolle, um dann die geeignete analytisch-technische Methode zu entwickeln. Dies sei ein spannender Prozess, bestätigte Marion Kanwischer. Aus ihrer Praxis wisse sie nur zu gut: Was bei Süßwasser zu Ergebnissen führe, müsse in der Ostsee mit ihrem Salzgehalt nicht zwingend funktionieren. Jedoch genau das mache den Reiz der Arbeit aus, bekannte die Wissenschaftlerin. Oft seien Ergebnisse anders als vermutet, und oft und häufig werfen die Resultate neue Fragen auf – etwas, womit sich die IOW-Forscherin gut identifizieren könne.

Vergangenes Jahr hat ihr Team eine Methode für die Analyse des Glyphosat-Gehalts in der Ostsee entwickelt. Hier habe nicht nur wissenschaftliche Exzellenz zum Ziel geführt, sondern auch der am IOW gegebene Freiraum für die Forschung. Das Institut verfüge über eine hervorragende Laborausstattung. Zusätzlich schaffen die kollegiale Zusammenarbeit und die offene Atmosphäre die notwendige und positive Inspiration für das Arbeiten an neuen Herausforderungen.

Die Glyphosat-Methode des IOW ist publiziert, sodass Forschende und Labore weltweit darauf zurückgreifen können, wenn sie Glyphosat in marinen Ökosystemen nachweisen wollen. Die Ergebnisse bestätigen, dass Glyphosat in die Ostsee gelangt ist, aber ob die Konzentrationen den dort lebenden Tieren und Pflanzen schaden, ist offen. Dieses Beispiel macht deutlich, dass Daten neutral sind. Ein Kontaminant ist nicht automatisch ein Schadstoff.

Hier und in vielen anderen Bereichen des Ostseeschutzes bedarf es politischer Verantwortung und internationaler Zusammenarbeit. Der HELCOM-Ostseeaktionsplan spannt den Bogen von regionaler Kooperation hin zu einer Vorbildfunktion für die globalen Weltmeere: Die Ostseeanrainer wollen künftig zu einer treibenden regionalen Kraft auf UN-Ebene werden.

Dieser große Kontext ist auch eine starke Motivation für Marion Kanwischer, denn für sie gilt: Die Ostsee muss als gesunder Lebensraum erhalten bleiben – und das nicht nur für uns Menschen.

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