Sündenbabel Westminster

Die Skandale im britischen Unterhaus nehmen kein Ende

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist ein ungewöhnliches Rücktrittsschreiben, das Boris Johnson am Donnerstagabend in Empfang nahm. »Lieber Premierminister, gestern Nacht habe ich viel zu viel getrunken«, beginnt der Tory-Abgeordnete Chris Pincher seinen kurzen Brief, in dem er seine Demission als stellvertretender Fraktionschef bekannt gibt. »Ich habe mich selbst und andere Leute lächerlich gemacht, und das ist das Letzte, was ich will.« Das klingt allerdings etwas harmloser, als es ist: Laut Augenzeugen hat Pincher am Mittwoch zwei Männer begrabscht, als er zusammen mit anderen Kollegen in einem privaten Tory-Club in London war. Am späten Freitag Nachmittag wurde Pincher aus der Fraktion geschmissen.

Chris Pincher wurde im Februar von Boris Johnson zum Deputy Chief Whip ernannt – also zum stellvertretenden »Einpeitscher«, dessen Aufgabe es ist, für Fraktionsdisziplin zu sorgen. Allerdings werden jetzt Fragen laut, weshalb der Premierminister überhaupt Pincher in dieses Amt gehoben hatte: Vor seiner Ernennung hatten Mitarbeiter offenbar ethische Bedenken geäußert, ob er der richtige Mann sei. Pincher musste bereits 2017 von einem offiziellen Posten zurücktreten, weil ihm sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen worden war.

Das Nachrichtenportal »Político« hat zudem berichtet, dass dem Abgeordneten ein inoffizieller »Aufpasser« zugewiesen worden war. Er sollte dafür sorgen, dass Pincher an gesellschaftlichen Anlässen nicht zu viel Alkohol konsumierte. Das hat offensichtlich nicht viel genützt – Pincher war laut Augenzeugen am Mittwochabend »extrem betrunken«.

Dass Johnson den Abgeordneten trotz seines zweifelhaften Rufs zum stellvertretenden Fraktionschef machte, dürfte damit zu tun gehabt haben, dass er einer seiner treusten Anhänger ist. Als der Premierminister aufgrund der Party-Affäre Anfang dieses Jahres tief im Schlamassel saß, habe Pincher seine Fraktion unermüdlich dazu angehalten, ihm den Rücken zu stärken, sagen Parteikollegen; teils sei er dabei richtig »gemein« vorgegangen – wie so oft im Londoner Politbetrieb äußern sich nur wenige Abgeordnete mit ihrem Namen, sie stecken den Journalisten lieber anonym Informationen zu.

Der Fall von Pincher ist für die Tories auch deswegen so schädigend, weil er erneut ein Schlaglicht wirft auf ein Problem, das die Partei zunehmend in Verruf bringt. Pincher ist bereits der fünfte Tory-Abgeordnete seit April, der mit einem »Sexskandal« ringt. Neil Parish musste zurücktreten, weil er im Unterhaus Pornos geschaut hatte; Imran Ahmad Khan wurde im Mai zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er sich an einem 15-Jährigen vergriffen hatte; ein unbekannter Tory ist wegen Verdachts auf Vergewaltigung verhaftet worden; und einem weiteren anonymen Abgeordneten wird vorgeworfen, anderen Männern Drogen verabreicht zu haben, um sie dann abzuschleppen.

Bereits Ende 2017, im Zug der #MeToo-Bewegung, war in Westminster ein Missbrauchsskandal ausgebrochen: Unzählige Fälle von Misogynie und Belästigung wurden bekannt, sowohl bei den Tories wie auch in der Labour-Partei. Opfer waren in der Regel jüngere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Abgeordneten aus beiden Parteien. Unter der damaligen Premierministerin Theresa May wurde ein neues System eingeführt, das eine unabhängige Untersuchung von Beschwerden erlauben soll. Aber an der Kultur in Westminster scheint sich dennoch wenig geändert zu haben – insbesondere bei der Regierungspartei.

»Die Konservative Partei steckt so tief in Sexskandalen, dass sie völlig außerstande ist, die Probleme der britischen Bevölkerung anzugehen«, sagte Angela Rayner, die stellvertretende Labour-Vorsitzende. Auch aus den eigenen Reihen geriet Johnson unter Druck. Ein Fraktionsmitglied sagte gegenüber der BBC: »Wenn er nicht aus der Partei ausgeschlossen wird, dann heißt das, dass Boris (Johnson) sein Verhalten billigt.« Erst nach langem Zögern entschied sich die Partei am späten Freitag Nachmittag, Pincher von der Tory-Fraktion auszuschließen.

Zwei weibliche Tory-Abgeordnete, Caroline Nokes and Karen Bradley, haben am Freitag einen Brief an Fraktionschef Chris Heaton-Harris geschrieben, in dem sie »tiefe Bedenken« zum Ausdruck bringen. Die Tory-Partei reagiere »auf inkonsistente und unklare Weise« auf Vorwürfe von sexuellen Übergriffen. Ein Verhaltenskodex solle Klarheit schaffen, und in der Zwischenzeit müsse die Partei eine »Null-Toleranz-Politik« verfolgen. Niemand, der im Verdacht von Übergriffen stehe, dürfte Parteimitglied bleiben.

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