Anachronismus im Radsport

Warum für die Tour de France extra Kopfsteinpflaster verlegt wird

  • Tom Mustroph, Calais
  • Lesedauer: 3 Min.
Etappen über Kopfsteinpflaster bei der Tour de France sind nicht neu, aber weiterhin umstritten.
Etappen über Kopfsteinpflaster bei der Tour de France sind nicht neu, aber weiterhin umstritten.

Geraint Thomas staunte nicht schlecht. Als er vor zwei Wochen auf einem Erkundungsritt zur heutigen 5. Etappe zwischen Lille und Arenberg unterwegs war, war plötzlich die Straße zu Ende. Arbeiter standen da und luden Pflastersteine ab – für ebendiese 5. Etappe. Der Toursieger von 2018 stieg vom Rad und bot grinsend Hilfe beim Verlegen an. Der Waliser postete die nette Episode später mit dem Kommentar: »Hoffentlich werden sie rechtzeitig fertig.« Die Geschichte illustriert neben aller Nettigkeit aber auch einen ganz seltsamen, hochgradig anachronistischen Aspekt dieser Tour de France.

Denn auf der einen Seite stecken die Rennställe Hunderttausende Euro in Windkanaltests und Materialerprobungen, um noch ein paar Watt einzusparen, indem Socken, Brillen oder Helme windschlüpfriger werden. Von den Reifen und Rahmen mal ganz zu schweigen. Es werden Ernährungswissenschaftler verpflichtet, die den Stoffwechsel so optimieren sollen, dass die durch Nahrung zugeführte Energie den maximalen Vortrieb auf dem Rad liefert.

Dann aber werden Mensch und Material über Straßen gejagt, die der Technologie des vorvorletzten Jahrhunderts entsprechen. Und nicht nur das: Das Straßenbauwesen des vorvorletzten Jahrunderts wird sogar noch simuliert, um einen extra unangenehmen Parcours zu kreieren. »Ja, wir Fahrer sind nicht unbedingt begeistert«, gesteht Simon Geschke, Radprofi beim Team Cofidis. »Aber es gehört nun mal zur Tour. Es soll der Beste auf allen Untergründen ermittelt werden«, meint der gebürtige Berliner zu »nd«. Und ein verschmitztes Lachen fliegt über sein Gesicht, als er sagt: »Wenn ich es nicht fahren müsste, würde ich es mir sicher im Fernsehen anschauen. Denn es wird sicher spektakulär.«

Das Spektakel ist der Hauptgrund, warum die Tour-Organisatoren das Pflaster immer wieder einbauen. Die erste Woche wird auf diese Weise schwer gemacht, die routinierte Praxis der Flachetappen mit Fluchtversuchen und Massensprints durchbrochen.

Die Teams nehmen es lakonisch zur Kenntnis. »Wir machen nicht den Parcours. Wir fahren da lang, wo die Tour die Strecke ausgewiesen hat«, meint trocken Mauro Gianetti, Chef des Teams von Tour-de-France-Titelverteidiger Tadej Pogačar zu »nd«. »Ob uns das gefällt oder nicht gefällt, spielt keine Rolle«, meint der Schweizer.

Ähnlich sieht es Christian Pömer vom deutschen Rennstall Bora-hansgrohe. Man fahre so, wie es das Tourbuch bestimmt. Und wenn die Zuschauer in Begeisterung ausbrechen, umso besser. Pömer sieht sogar noch einen Zusatznutzen: »Die Radhersteller haben sich auf diese Situation ja seit Jahren eingestellt. Durch die Erfahrungen gerade bei den Rennen über Kopfsteinpflaster wurden die Gravelbikes für den Massenmarkt entwickelt.«

Das ist tatsächlich ein schlagendes Argument. Denn die Frankreich-Rundfahrt der Profis trägt mit ihren unterschiedlichen Streckenprofilen zur Ausdifferenzierung des Fahrradmarkts insgesamt bei. Man kann aber auch mit dem Klapprad der Oma übers Kopfsteinpflaster fahren. In ländlichen Regionen, in die die Asphaltwalze noch immer nicht vorgedrungen ist, ist das sowieso Alltag.

Also doch alles prima mit dem Kopfsteinpflaster? Nicht ganz – beim Blick aufs Sportliche: »Es besteht schon die Gefahr, dass die Tour dadurch langweiliger wird«, warnt Geschke. »Wenn früh zwei wichtige Klassementfahrer weit zurückfallen und einer allein mit zehn Minuten führt, ist das Rennen doch vorentschieden.«

Da könnte den Spektakelplanern von Tour-Organisator Aso tatsächlich die eigene Schlauheit auf die Füße fallen. Mal sehen, für wen die Buckelpistenlotterie heute eine Niete bereithält.

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