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Summertime sadness

Wer im Sommer unglücklich ist, begeht einen Frevel

Manche Leute müssen alles dekonstruieren. Jacques Derrida zum Beispiel. Oder ein Freund von mir, der nicht viel mit Silvester anfangen kann. Warum sollte man zum Jahreswechsel seinen chicsten Fummel rausholen, sich mit Freunden treffen und Sekt trinken, wenn es sich doch bloß um ein recht willkürlich festgelegtes Datum handelt, das im Grunde wenig mit unseren persönlichen Leben zu tun hat, lautet das Argument.

Das ist natürlich Blödsinn. Zunächst, weil man sich keinen Termin entgehen lassen sollte, der ein bisschen Extravaganz rechtfertigt, dann aber auch, weil das Datum so willkürlich gar nicht ist: Zwar hätte man das neue Jahr vielleicht auch im Sommer begrüßen können, aber die Länge von 365 Tagen ergibt sich bekanntlich daraus, dass die Erde in dieser Zeit die Sonne umrundet. Innerhalb dieses 365-Tage-Rhythmus gibt es immer einen Winter, einen Herbst, einen Frühling und einen Sommer. Und Jahreszeiten lassen sich nun wirklich nicht dekonstruieren.

Der Sommer bedeutet einen Einschnitt im Jahr – zumindest überall, wo Jahreszeiten mit Wetterumschlägen einhergehen. Es gibt in diesen Regionen wohl kaum ein Kind, dessen Lieblingsjahreszeit nicht der Sommer ist. Die höheren Temperaturen lösen die Grenzen zwischen Drinnen und Draußen, dem Körper und der Mitwelt auf. In dieser Wärme liegt der letzte Winter eine Ewigkeit zurück: Kaum vorstellbar die Zeit, in der man das Haus nur in Daunenjacke und gefütterten Stiefeln verlassen hat, durch dicke Textilienschichten von der Umgebung abgeschirmt und seinen Empfindungen beraubt. Nun liegt man entspannt mit nackten Beinen im Gras oder auf Kopfsteinpflaster, spürt Sonne und Ameisen auf der Haut. Auch Eltern scheinen im Sommer lockerer zu sein. Noch bis spätabends steht am Wochenende die Terrassentür offen und zum Zubettgehen wird man nicht allzu früh verdonnert. Dazu kommen natürlich die Sommerferien, in denen man der oft zermürbenden Zwangsgemeinschaft des Klassenverbands für die längste Zeitspanne entrinnen und sich ganz auf das Wichtigste konzentrieren kann, seien es die Nachbarschaftskinder oder die Micky-Mouse-Comics, die man von morgens bis abends verschlingt.

Der Sommer hat, vielleicht auch wegen solcher Erinnerungen, für viele Erwachsene etwas Magisches behalten. Und tatsächlich verschwindet die Grenze zwischen Drinnen und Draußen noch immer. Öffentliche Plätze, Parks und die Tische vor Restaurants und Cafés füllen sich mit Leben. Einfach irgendwo sitzen, lesen und dabei vielleicht jemanden kennenlernen – das geht auch, wenn man älter ist, am besten im Sommer. Doch der Sommer bringt auch Forderungen mit sich. In dieser Zeit sollte man im Meer baden, Radtouren unternehmen, in seiner Gartenlaube grillen, in den Urlaub fahren, mit Freunden zelten, ins Open Air-Kino gehen, unter den Reben eines Weinguts liegen, bis in den nächsten Tag hinein draußen tanzen, ins Freibad einbrechen, sich dabei Hals über Kopf verlieben und jegliche weitere Klischees erfüllen, die man so über diese Jahreszeit gehört hat – das alles natürlich in passenden Sommeroutfits, die einen makellosen, gebräunten Teint in Szene setzen, und immer mit ansteckend guter Laune. Gelingt einem das nur nur in begrenztem Maße, hat man versagt. Unwirsch strahlt der azurblaue wolkenlose Himmel, wenn man krank, traurig oder von der Arbeit erschöpft ist, wenn der eigene Körper einmal nicht für die Öffentlichkeit zu taugen scheint oder wenn niemand Zeit hat, etwas zu unternehmen. Dann scheint er einen zu verlachen, das eigene Leid damit noch zu potenzieren. Es gilt im Sommer als Frevel, drinnen zu bleiben, und wenn man draußen ist, lautet der Imperativ, sich und das Leben uneingeschränkt zu genießen. Verschwende deine Jugend, aber verschwende nicht den Sommer!

So sehr das manchmal zur Last werden kann, ist der Spätsommer, der nun vor der Tür steht, im Vergleich zum Hochsommer schon gnädiger: Er kennt die Melancholie. Es ist bald vorbei, scheint er mit seiner Üppigkeit und den langen Schatten zu sagen. Einige sind tatsächlich gesättigt von ihren Erlebnissen, andere unbefriedigt, weil ihr Idealbild des Sommers wieder einmal nicht der Realität standgehalten hat. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt, und deswegen werde ich auch an diesem Silvester beim Anstoßen wieder an den nächsten Sommer denken.

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