Ton Steine Straßenschilder

Der Traum vom Rio-Reiser-Platz ist in Berlin-Kreuzberg Wirklichkeit geworden

Die Band Ton Steine Scherben am Sonntag auf der Bühne am Rio-Reiser-Platz.
Die Band Ton Steine Scherben am Sonntag auf der Bühne am Rio-Reiser-Platz.

Ein 46-jähriger Mann sitzt am Sonntagabend am neuen Rio-Reiser-Platz in Berlin-Kreuzberg auf der Bordsteinkante und kifft. Auf seinem rechten Unterarm ist die Zahl »1312« tätowiert, der Zahlencode für die ersten drei Buchstaben des Alphabets. Übersetzt heißt das ACAB und steht für All Cops are Bastards (Alle Polizisten sind Bastarde). Zwei Meter entfernt sitzt eine junge Frau, die beinahe seine Tochter sein könnte, ebenfalls mit einem »1312«-Tattoo an der Stelle. Als die beiden das bemerken, juchzen sie laut, rücken zusammen und reiben lachend ihre Tattoos aneinander. So verbinden sich in der Rebellion gegen das System zwei Generationen. Aber es sind hier auch noch Ältere mit grauen Haaren und Falten im Gesicht – so wie der Sänger Rio Reiser jetzt wahrscheinlich aussehen würde, wenn er nicht 1996 im Alter von 46 Jahren gestorben wäre.

Der Platz singt mit

Dicht gedrängt warten Menschen auf der extra für den Verkehr gesperrten Kreuzung von Oranien- und Mariannenstraße – dem früheren Heinrichplatz, der um 18.54 Uhr mit einem auf Null runtergezählten Startsignal offiziell in Rio-Reiser-Platz umbenannt wird. Eine Stunde lang gibt die Band Ton Steine Scherben, deren Sänger Rio Reiser von 1970 bis 1985 war, in neuer Besetzung ein Konzert. Bei einigen in der linken Szene berühmten Titeln singen die Fans laut mit, beim Rauch-Haus-Song etwa, der von der Besetzung des Schwesternwohnheims des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses im Dezember 1971 handelt. Nicht weit von hier ist das gewesen. Den Text kennen die Zuhörer. »Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus«, fallen sie in den Refrain ein. Der Song thematisiert den Widerstand gegen Immobilienspekulanten und ist damit 50 Jahre nach seiner Entstehung wieder aktuell.

Nachdem die »Scherben«, wie sie von ihren Fans verkürzt genannt werden, sich um 18.03 Uhr unter dem Beifall der begeisterten Menge verneigt haben, betritt die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Clara Herrmann (Grüne), die Bühne und erinnert daran, dass Mieter vor Immobilienkonzernen geschützt werden müssen. Sie versichert: »Wir bleiben rebellisch.« Neben der Bühne werden an einem Stand Schallplatten der Scherben verkauft und T-Shirts mit aufgedruckten Slogans aus Texten ihrer Lieder: »Macht kaputt, was euch kaputt macht« und »keine Macht für niemand«.

Kulturstaatsministerin wird ausgepfiffen

Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) war in den 1980er Jahren einige Zeit Managerin der Band und will deshalb eine Rede halten. Doch kaum hebt sie dazu an, gellen Pfiffe und ertönen Buhrufe. Ein paar Linke haben sich verabredet, ihren Auftritt zu torpedieren. Was sie hier konkret sagen möchte, spielt dabei gar keine Rolle. Zu weit entfernt haben sich die Politikerin und ihre Partei von den anarchistischen Ideen von Rio Reiser und von ihren eigenen Wurzeln in der Außerparlamentarischen Opposition und in der Friedensbewegung der 70er und 80er Jahre. Die Grünen üben Macht aus, regieren mit den verschiedensten Koalitionspartnern bis hin zu CDU und FDP und tragen historische Mitverantwortung für die deutsche Beteiligung am Nato-Angriff auf Jugoslawien im Jahr 1999. Da tut es für die Pfeifenden nichts zur Sache, dass Claudia Roth im Mai 1999 gemeinsam mit dem Bundestagsabgeordneten Christian Stöbele und anderen auf einer Delegiertenkonferenz der Grünen einen Antrag stellte, der die sofortige Beendigung der Bombardierung Jugoslawiens forderte. Für die Pfeifenden sind die Grünen seit 1999 nur noch die Olivgrünen – in Anspielung auf die Tarnfarbe von Uniformen. Roth soll die Klappe halten und abhauen.

»Nein, ich haue nicht ab«, ruft sie empört und spricht weiter. Wenn Rio Reiser ein politisches Programm gehabt habe, dann »Freiheit für sich«. Aber er habe anderen nicht seine Meinung oder seinen Lebensstil aufzwingen wollen, erklärt Roth. »Sich gewaltsam durchzusetzen, würde den Traum zerstören«, sagt sie und erinnert damit an Reisers Song »Der Traum ist aus«. Darin erzählt das lyrische Ich, es habe geträumt: »Alle Türen waren offen, die Gefängnisse leer./ Es gab keine Waffen und keine Kriege mehr.« Im Refrain heißt es dann: »Der Traum ist aus./ Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird.«

In einer reaktionären, homofeindlichen Welt habe sich Rio Reiser als erster deutscher Sänger zu seinem Schwulsein bekannt, berichtet Roth. »Ich will lieben, wen ich lieben will.« Das sei sein Motto gewesen. Seine schönen Liebeslieder seien als Kitsch verspottet und als Verrat an der Revolution eingestuft worden. Aber für Rio sei das Private immer politisch gewesen. Als klar ist, dass Roth nicht zurückweicht, lässt das Pfeifkonzert nach und sie erhält auch Applaus.

Linke-Politiker machten den Vorschlag

In Unna im Ruhrgebiet gibt es bereits seit 2012 einen Rio-Reiser-Weg, in Berlin nun einen Rio-Reiser-Platz. Vor fünf Jahren schlugen der Bundestagsabgeordnete Pascal Meiser (Linke) und Oliver Nöll (damals Linksfraktionschef im Bezirk, heute Sozialstadtrat) vor, einen Teil des Mariannenplatzes Rio-Reiser-Platz zu nennen. Die Wahl fiel zwar auf einen anderen Ort, den Heinrichplatz. Meiser freut sich trotzdem. Es sei großartig, dass an den Künstler Rio Reiser, »der immer auch ein politischer Aktivist und bekennender Linker war«, in dieser Form erinnert werde. Das sei aber auch Verpflichtung, »dafür zu kämpfen, dass der Ausverkauf unserer Stadt endlich aufhört und die Immobilienspekulation ein Ende findet«. Das sollten sich, sagt Meiser dem »nd« am Montag, all diejenigen ins Stammbuch schreiben, »die sich jetzt im Glanze der medialen Aufmerksamkeit zu sonnen versuchen, sonst aber nur noch wenig mit dem am Hut haben, wofür Rio Reiser Zeit seines Lebens stand«.

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