Toxisches Fahrgefühl

In Berlin sind Männer unter 25 Jahren überproportional häufig an tödlichen Verkehrsunfällen beteiligt

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie rasen durch die Stadt mit Autos knapp an der TÜV-Grenze, ignorieren die Verkehrsregeln und halten sich für die besten Fahrer der Welt. Was nach einem Klischeebild spätpubertärer Verkehrsteilnehmer klingt, entspricht der statistischen Realität, die aus dem diesjährigen Verkehrssicherheitsreport der Prüfgesellschaft Dekra hervorgeht. Die unternehmenseigenen Sachverständigen haben Unfall- und Todeszahlen im Berliner Straßenverkehr mit einem Fokus auf junge Menschen zusammengetragen und kommen zu einem eindeutigen Ergebnis: Die Gruppe der bis zu 24-jährigen Männer sticht vor allem bei den Verursachern und Beteiligten an tödlichen Unfälle überproportional hervor.

»Männer sind viermal so oft an einem Unfall mit Todesfolge beteiligt«, sagt Volker Postel, der am Dienstag den Dekra-Bericht vorstellt. Die Berliner Zahlen von 2021 belegen diese Geschlechterverteilung besonders eindrücklich: Unter den 40 Todesfällen im Straßenverkehr waren sechs Opfer unter 25 Jahre – und alle von ihnen männlich. Doch das sei kein hauptstadtspezifisches Phänomen, sagt Postel: »Betrachten wir das Ganze weltweit, stellen wir fest, dass 80 Prozent der getöteten jungen Verkehrsteilnehmer Männer sind.«

Die Ursachen sieht Postel in einer Kombination aus alters- und geschlechtsbedingten Verhaltensweisen. Er beschreibt zum einen gängige Risiken für Fahranfänger*innen, denen es noch an Erfahrung mangele. Dadurch würden sie die Fahrzeuge nicht komplett beherrschen und Gefahren falsch einschätzen. Dazu käme das »Jugendlichkeitsrisiko«: Selbstüberschätzung trotz mangelnder Fahrkompetenz. »Wir stellen fest, dass konsequent gegen Verkehrsregeln verstoßen wird. Die denken sich dann: So what? Ich kann das besser!«

Postel bezieht sich auf eine deutschlandweite Forsa-Studie, in der über die Hälfte der befragten jungen Männer angab, viel oder zumindest etwas besser als der Durchschnitt aller Autofahrer*innen zu fahren. Wenn dann noch Alkohol oder andere Drogen im Spiel seien oder sich junge Menschen am Steuer vom Mobiltelefon ablenken ließen, ergebe das einen »toxischen Cocktail«.

Auch bei anderen Verkehrsmitteln zeige sich diese gefährliche Mischung. Gerade in Berlin nutzten Jugendliche gern die omnipräsenten E-Roller, ohne auf die Verkehrsregeln zu achten – und zu zweit oder sogar zu dritt auf einem Fahrzeug. Sie würden die Geschwindigkeit unterschätzen. »Dann wird jede Bordsteinkante zur Herausforderung, und die Orthopäden haben viel zu tun.«

Doch während E-Roller-Unfälle laut Postel meist glimpflich verlaufen, enden Autounfälle oft tödlich – wie in den Beispielen, die Postel als Anschauungsmaterial mitgebracht hat. Fotos von den Unfallorten und animierte Rekonstruktionen des Hergangs lassen seine vorangegangene Gefahrenanalyse real werden. Da ist der junge alkoholisierte Fahrer mit überhöhter Geschwindigkeit und Sommerreifen trotz winterlichen Temperaturen, der von der Brandenburger Landstraße abkommt. Da ist der schwarze Wagen, der dem zu schnellen weißen Wagen auf der Kreuzung die Vorfahrt nimmt und eine mehrfache Kollision provoziert. »Hinter den Zahlen stecken individuelle Schicksale«, sagt Postel.

Auf individuelle Schuldzuweisung greift Postel jedoch nicht zurück, im Gegenteil: »Uns fehlt ein systematischer Ansatz.« Postel verweist auf Baden-Württemberg, wo Straßen »verzeihend« gestaltet werden. Der Grundgedanke: Verkehrsteilnehmer*innen würden immer Fehler machen, deswegen müsse die Infrastruktur angepasst werden.

In Berlin ist in Postels Augen noch nicht genug geschehen. Die Zahlen seien hier in den vergangenen acht Jahren nicht signifikant gesunken, die der jährlichen Todesfälle schwankt zwischen 36 und 56. »Ein viel zu hohes Niveau«, sagt Postel, doch sollten die Daten niemanden verwundern. Es seien schlicht keine ausreichenden Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden.

Neben allgemeinen Maßnahmen wie Leitplanken und guter Übersichtlichkeit hat Postel auch Ideen parat, wie speziell für die Gruppe junger Menschen mehr Sicherheit geschaffen werden kann. Zum einen müsse durch Konzepte wie begleitetes Fahren die Risikophase von Fahranfänger*innen abgeschwächt werden. Wenn in den ersten sechs Monaten beziehungsweise bei den ersten 3500 gefahrenen Kilometern eine Vertrauensperson vom Beifahrersitz aus mitschaue und -denke, sei das »eine Lebensversicherung«. Bisher ist begleitetes Fahren in Deutschland ab 17 möglich, Jugendliche können dadurch also ein Jahr lang vor ihrer Volljährigkeit bereits Fahrerfahrung sammeln. Die Dekra unterstütze die Pläne der Bundesregierung, das Alter auf 16 herabzusetzen, so Postel.

Von der Berliner Politik erwarte er außerdem einen höheren Sanktionsdruck. Junge Verkehrsteilnehmer sollten so merken, dass Regelverstöße auch Konsequenzen haben. Und schließlich böten technische Mittel mehr Sicherheit, wobei man sich nicht darauf verlassen sollte, dass jedes Problem mit Technik zu lösen sei, betont Postel. Dennoch könnten Sicherheitstraining und ein Assistenzsystem etwas zur Kontrolle des Fahrzeuges beitragen.

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