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Existenzialismus in Blau

Die Choreografin Oona Doherty zeigte in Berlin ihre neue Arbeit »Navy Blue«

Die marineblauen Anzüge der Tanzenden sind in »Navy Blue« mit der Arbeiterklasse verknüpft.
Die marineblauen Anzüge der Tanzenden sind in »Navy Blue« mit der Arbeiterklasse verknüpft.

Sie gilt als aufgehender Stern am Tanzhimmel: Die irische Choreografin Oona Doherty gewann 2021 den Silbernen Bären auf der Tanzbiennale in Venedig; dieses Jahr erschien unter anderem ein großes Porträt von ihr in der »Zeit«. Nun zeigte die 1986 geborene Künstlerin ihre neueste choreografische Arbeit »Navy Blue« im Rahmen des Festivals Tanz im August im Haus der Berliner Festspiele.

In Dohertys Arbeiten soll es, so liest man in einem Ankündigungstext, um Klasse, Geschlecht (gender) und Identität gehen. Das muss nicht überraschen, schließlich kann man mit diesen leicht konsumierbaren Schlagwörtern derzeit überall in den Künsten punkten – und natürlich verbergen sich dahinter tatsächlich dringliche Problematiken, auch wenn diese oft ästhetisch unzureichend behandelt werden. Doch wie können soziale Ungerechtigkeit, Misogynie und Rassismus – der laut eigener Aussage den Ausgangspunkt für Dohertys aktuelle Arbeit bildete – überhaupt im experimentellen Tanz thematisiert werden, der doch im Vergleich etwa zur Literatur oder zum Theater mit abstrakteren Formen agiert?

Doherty liefert mit »Navy Blue« eine zugleich sehenswerte und doch nicht ganz überzeugende Antwort. Alle zwölf Tänzerinnen und Tänzer tragen in dem Stück einen marineblauen Arbeitsanzug. Sie sollen – so verrät der von der Choreografin eingesprochene Text, der zeitweise die Aufführung begleitet – traditionelle Arbeiter darstellen, die die »unwesentliche menschliche Geschichte am Laufen halten«.

Zum Zweiten Klavierkonzert von Sergei Rachmaninoff sieht man die Tanzenden anfangs Bewegungen ausführen, von denen sich nicht so recht sagen lässt, ob sie absichtlich oder zufällig nicht ganz synchron sind. Ein bisschen nachlässig wirkt es – doch das ist vielleicht normal. Analog zur bildenden Kunst stehen auch im zeitgenössischen Tanz derzeit statt technischer Perfektion Konzepte, Ideen und Identitäten im Vordergrund.

Das Geschehen auf der Bühne lässt sich in dieser Anfangsphase tatsächlich mit Fabrikarbeitern assoziieren. Die Tanzenden laufen im Kreis, führen mechanisch wirkende schraubende und drehende Bewegungen aus und solche, die das Wiegen eines Kindes im Arm zu simulieren scheinen. Kreisende Arme erinnern an Uhrzeiger – was versinnbildlichen könnte, dass das genaue Zeitmessen erst mit der kapitalistischen Warenproduktion unabdingbar wurde.

Plötzlich ertönt ein Schuss über die Lautsprecher, einer der Tanzenden taumelt, fällt hin, bleibt reglos liegen. Nach und nach ereilt auch alle anderen dasselbe Schicksal. Die jeweils Übriggebliebenen tanzen weiter, manchmal scheinen sie bestürzt zu sein, rotten sich zusammen, streben dann wieder auseinander. Als alle am Boden liegen, hört man sphärische elektronische Klangflächen, produziert vom britischen Musiker Jamie XX.

Ein blaues Licht breitet sich wie Blutlachen auf dem Boden aus, verbindet die Liegenden sukzessive miteinander. Sie richten sich wieder auf. Nun stehen sie in einer Reihe am Rand der Bühne, die Gesichter zum Publikum gewandt. Dohertys Stimme dringt aus den Boxen: »Hello. Thanks for coming. It’s good to see ya. I didn’t know you’d be here. I’m surprised. You’ve come a long way. A really long way. Four and a half billion years.« Die Angesprochenen seien also, so staunt man, durch die gesamte Entstehungszeit der Erde zu Dohertys Vorstellung gereist. Offenbar sollen sie sich als direkte Nachfahren der ersten leblosen Atomgebilde begreifen. Doch mit welchem Sinn?

Es folgt unter anderem ein sehr eigenwilliger Abriss der jüngeren Geschichte. Zwölf verschiedene Daten werden aufgezählt, darunter der durch einen Polizisten verursachte gewaltsame Tod des Afroamerikaners George Floyd 2020, die Anklage des bosnisch-serbischen Kriegsverbrechers Ratko Mladić 1995 in Den Haag und die erste Mondbetretung durch Neil Armstrong 1969.

Die Zusammenstellung wirkt in ihrer Beliebigkeit eher nichtssagend. Und was genau hat die Erde mit konkreten politischen Verhältnissen und Privilegien (auch dies ein aktuell oft eher reflexhaft verwendetes Schlagwort), was haben Kometen mit Adolf Hitler und Josef Mengele zu tun? Ja, auch Hitler und Mengele, der KZ-Arzt und SS-Massenmörder, haben Eingang in das Stück gefunden. In einer Reihe stehen sie unter anderem mit Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und der republikanischen US-Politikerin Sarah Palin. Sie alle seien einst aus »blassrosa Punkten« (womit vielleicht befruchtete Eizellen gemeint sind?) entstanden.

So ganz wird nicht klar, wie diese Aufzählung zustande gekommen ist, doch lässt sich zumindest feststellen, dass sie keine Person enthält, die für Linksliberale nichts auf dem Kerbholz hat. Sind Zuckerberg und Hitler für Doherty also gleichermaßen Bösewichte der Geschichte? Das wäre mindestens sehr unglücklich.

Die Bühne immerhin bereitet mehr Genuss als der Text. Die Tanzenden, deren Körper zumeist in warmes goldenes Licht getaucht sind, wirken in der stets dunklen Umgebung und zu der zurückhaltenden düsteren Musik geradezu traumhaft, in ihren verschiedenartigen, individualistischen, aber sich doch auf bestimmte Weise ergänzenden Bewegungen manchmal wie angesteckt von einem fremdartigen Feuer. In Momenten ist das tatsächlich ergreifend schön. Einzelne treten zeitweise für expressive Soli aus der Gruppe, können so ihre technischen Fertigkeiten unter Beweis stellen. Besonders eine Frau bleibt in Erinnerung mit ihrem oberkörperfreien ekstatischen Tanz, der Verzweiflung ebenso wie kraftvollen Widerstand auszudrücken scheint.

Das Ende ist versöhnlich: Die Tanzenden haben zueinandergefunden, liegen sich in den Armen. In dieser Furchtlosigkeit vor dem Kitsch steckt durchaus Schönheit. Doch statt im Konkreten das Allgemeine zu entdecken, will Doherty – das wird vor allem am Text, aber auch an den damit zusammenhängenden Bewegungen deutlich – nur das Große verhandeln, ohne ins Detail zu gehen. Was genau die Blaumänner mit George Floyd zu tun haben oder Sarah Palin mit dem Urknall, scheint nicht Gegenstand ihres Interesses zu sein. »Mach Kunst und denk über den Kosmos nach!«, heißt es im Text. Aber bitte ohne Worte, möchte man hinzufügen.

Das Festival Tanz im August (www.tanzimaugust.de) findet an verschiedenen Spielstätten in Berlin noch bis zum 27. August statt.

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