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Wohlmeinender Beschützer der linken Szene

Mit dem Grünen-Gründer Hans-Christian Ströbele verliert Deutschland auch eine Figur der Zeitgeschichte

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 6 Min.

Berlin-Prenzlauer Berg, am 1. Mai abends, irgendwann Mitte der 1990er Jahre: Nach der Demo gibt es die üblichen Polizeischarmützel. Nördlich des U-Bahnhofs Eberswalder Straße wird noch Katz und Maus gespielt, südlich davon ist eine Polizeikette postiert und junge Leute in schwarzen Kapuzen sitzen auf einem Geländer. Da taucht ein älterer Herr auf einem Fahrrad auf, schlohweißes Haar, dichte Augenbrauen, einen roten Pullover um den Hals. »Ey«, ruft jemand in seine Richtung, »die Polizei war schuld! Ich schwörs!« Der Fahrradfahrer wendet den Kopf zur Seite und winkt mit einem breiten Grinsen. Am Straßenrand wird lauthals gelacht. Zumindest hier und in diesem Moment entspannt sich die Lage.

Ähnliche Szenen dieses älteren Herren beim Inspizieren von Demos gab es zuhauf. Doch nun kann der Mann auf dem Fahrrad nicht mehr grüßen. Hans-Christian Ströbele, geboren 1939 in Halle an der Saale, ist verstorben. Berlin und die Bundesrepublik verlieren mit ihm nicht nur einen kritischen Anwalt und engagierten Politiker, sondern auch eine Figur der Zeitgeschichte. Bei vielem, das die Republik seit den 1960er Jahren bewegt hat, war der Jurist nicht nur Zeuge, sondern auch Beteiligter: als Anwalt der RAF während der Stammheimer Prozesse, bei der Gründung jener »alternativen Listen«, die zur grünen Partei wurden, beim Start der einst linksradikalen »Tageszeitung«, aber auch als geduldiger Vermittler während der »Häuserkämpfe« der 1980er in West- und 1990er in Ost-Berlin. So soll er besetzten Häusern als Treuhänder anonyme Stromzahlungen ermöglicht haben, sodass man weder im Dunklen saß, noch, weil namentlich bekannt, Räumungsklagen zu fürchten hatte.

Dahingestellt, wieviel davon nur Mythos ist: Die Geschichte mit der Stromtreuhänderschaft trifft das Verhältnis zumindest des späteren Ströbele zur linken Szene bestens. Stets hat er mit ihr sympathisiert, sich aber nie ganz gemein gemacht. Eher war er – darf man das sagen? – eine Art Vaterfigur mit Veteranengeruch, ein wohlmeinender Beschützer, der über allerlei Unfug milde hinwegsah, solange die Richtung grob stimmte. So war Ströbele in seinem letzten Lebensabschnitt als Kreuzberger Bundestagsabgeordneter in seinem Direktwahlkreis unschlagbar. Mit allen Fehlern und Problemen verkörperte er wie kein anderer den Stadtteil, der als Inbegriff der bundesdeutschen Alternativbewegung gelten kann. Und das, obwohl er selbst in Moabit in Berlin-Mitte lebte, bei der Luftwaffe gedient hatte und im Gegensatz zu den Usancen der Alternativkultur seit 1967 mit Juliana Ströbele-Gregor nicht nur liiert, sondern verheiratet war.

Bundesweit bekannt wurde Ströbele, der 1959 Abitur gemacht und bis 1969 in Heidelberg und West-Berlin studiert hatte, in den frühen 1970er Jahren als Mitglied des »Sozialistischen Anwaltskollektivs«. Als junger Jurist wurde er gleich mitten ins Zentrum der politischen Erregung gezogen, als er die Vertretung des 1972 verhafteten RAF-Gründers Andreas Baader übernahm. Am eigentlichen Verfahren ab 1975 war er zwar eher im Hintergrund beteiligt, weil man ihn kurz vor dem Prozess ausgeschlossen hatte. Und doch prägte dieses Mandat nicht nur sein Image als »RAF-Anwalt«, sondern auch seine Person: Im Frühjahr 2017 bekannte er am Rande einer Filmvorstellung, dass die 176 Aktenordner aus diesem Verfahren noch immer in seinem Regal ständen. Kein Wunder, wurde der Fall doch auch zu einem Fall Ströbele: Noch 1982 wurde er wegen angeblicher Terrorhilfe zu zehn Monaten auf Bewährung verurteilt, weil er als Anwalt die Kommunikation in der Gruppe begünstigt haben soll.

Zugleich begann Ströbeles Wandlung vom Anwalt zum Politiker. Für die Grünen saß er ab 1985 erstmals im Bundestag – wegen der Rotationsregel zunächst nur zwei Jahre lang. Doch danach spielte Ströbele, der als »Fundi« galt, obwohl er früh für Regierungsbeteiligungen eintrat, zunächst eine prominente Rolle in der Partei, wenn auch nicht immer vom Glück verfolgt: Die von ihm vermittelte erste rot-grüne Koalition in Berlin hielt nur von 1989 bis 1991. In seine kurze Amtszeit als Sprecher der Bundespartei fiel 1990 auch das Reißen der Fünfprozenthürde, was wohl auch in seiner kritischen Position zur Wiedervereinigung einen Grund hatte. Und 1991 stolperte er, nicht untypisch für seine Generation, über den Nahostkonflikt: Eine grüne Israel-Delegation endete im Fiasko, nachdem er in einem Interview vor allem die israelische Politik für die Bedrohung durch Saddam Husseins Raketen verantwortlich gemacht hatte.

Daraufhin musste Ströbele in den Niederungen der Berliner Politik einen neuen Anlauf nehmen. 1998 schaffte er es über die Landesliste erneut in den Bundestag – um sich in der Regierungskoalition als scharfer Kritiker der Jugoslawien-Kriegspolitik des damaligen Außenministers Joschka Fischer unbeliebt zu machen. Diese Haltung kostete ihn 2002 einen sicheren Listenplatz. Sie führte ihn unter dem schönen Slogan »Ströbele wählen heißt Fischer quälen« aber auch zum ersten grünen Direktmandat überhaupt, das er 2005, 2009 und 2013 verteidigen konnte, jeweils als einziger Wahlkreisgewinner seiner Partei. Im Bundestag wurde er zwar zusehends älter, aber nicht milder: Insbesondere in Untersuchungsausschüssen zu den nicht abreißenden Spitzel-, Abhör- und Geheimdienstaffären in der deutschen Politik gehörte er zu den engagierten Aufklärern. In zahlreichen öffentlichen Auftritten machte er sich insbesondere für die Whistleblower Edward Snowden und Julian Assange stark.

Im großen Rückblick auf »68« und die Folgejahre wird deutlich, wieso Ströbele im Kreuzberger Biotop bis zuletzt auch für Leute ein Sympathieträger blieb, die ansonsten die Grünen schon lange verachteten. Er gehörte seinerzeit nie zu den wirklich Radikalen, beharrte aber verlässlich auf seiner Position – wie wohltuend im Vergleich zu anderen Ex-Spitzengrünen wie etwa Otto Schily, Reinhard Bütikofer und Ralf Fücks, ob sie nun karrieristisches Parteien-Hopping betrieben oder sich von maoistischen Ultrasektierern zu mittigen Extremistenjägern und Nato-Hardlinern wandelten. Ganz zu schweigen natürlich von seinem einstigen Kanzleikollegen Horst Mahler, der wie einige Verbalradikale der wilden Jahre bis zu den Rechtsradikalen durchgerutscht ist.

In seinem kurzen Ruhestand fremdelte Ströbele zusehends mit seiner Partei, die heute auf »smarte Lösungen« statt auf politischen Widerstand setzt. In späten Interviews beschrieb er dieselbe oft wie von außen: »Die Grünen haben Erfolg«, »die Grünen sollten bedenken…«. Da war schon sprachlich kaum noch ein Wir. Vieles an seiner Partei hat ihn zuletzt geärgert und geängstigt, von den gehäuften Anglizismen bis zu der moralischen Forschheit, mit der manche Grüne heute für einen »Sieg« der Ukraine im Krieg mit Russland trommeln.

Doch Hans-Christian Ströbele war nicht der Typ dafür, seiner Partei in der Rolle eines weisen Alten frontal an den Karren zu fahren. Neben der politischen Konstanz prägte ihn ein zweiter selten werdender Wert: Loyalität. So bleibt von seinem Wirken bei allen Fehlern und Wirrungen nur wenig bitterer Nachgeschmack. Fast möchte man ihm ein Wort nachrufen, das sich im Parteien- und Parlamentswesen ansonsten streng verbietet: Er war ein authentischer politischer Mensch.

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