Pflegebedürftige werden ausgepresst

Viele Heime erhöhen zum 1. September die Preise. Sie verweisen auf Tariflöhne und die Inflation

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 4 Min.
Auch das kostet Geld: Pfleger und Bewohner in einem Pflegeheim in Heidelberg
Auch das kostet Geld: Pfleger und Bewohner in einem Pflegeheim in Heidelberg

»Knapp 500 Euro mehr! Damit summiert sich der Eigenanteil für die Pflege meiner Mutter mittlerweile auf knapp unter 3000 Euro. Ich frage mich, wer so viel Rente bekommt, gerade im Osten?« Jens Winkelmann ist entsetzt. Den Schock, den der Brief des Pflegeheims mit der Kostenerhöhung auslöste, hat er noch immer nicht verdaut. Seine Mutter, die demnächst 95 Jahre wird, wohnt seit 2010 in einem Berliner Pflegeheim. Deutschlandweit sind von den nun erhöhten Kosten Hunderttausende Pflegebedürftige und ihre Angehörigen betroffen.

Mitten in der aktuellen sozialen Notlage mit steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen erhöhen die meisten Pflegeeinrichtungen zum 1. September die Eigenbeträge ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Begründet wird das damit, dass Pflegekräfte ab diesem Donnerstag nach Tarif bezahlt werden müssen und die Einrichtungen die Mehrkosten weitergeben. Wer im Pflegeheim lebt, ist per Gesetz an den Kosten für Pflege und Unterkunft beteiligt. Darüber hinaus zahlen die Bewohnerinnen und Bewohner einen Beitrag zu den Investitionskosten des Betreibers. Das sind zum Beispiel Ausgaben für Umbau, Modernisierung und Instandhaltung. Bei Vertragsschluss wird genau festgelegt, welche finanziellen Belastungen auf die Pflegebedürftigen zukommen. Die Kosten, die diese selbst tragen, seien über die Jahre betrachtet jedoch keine fixe Summe, heißt es beim Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv). Wenn sich während der Vertragslaufzeit etwas an den Kosten für Pflege, Betreuung, Wohnraum, Verpflegung und Investitionen ändert, könne das Pflegeunternehmen unter gewissen Umständen die Kosten an die Bewohnerinnen und Bewohner weitergeben.

Die kleinteilige Pflegebranche, in der nur wenige Arbeitgeber tarifgebunden sind, soll sich ab dem 1. September an einem Durchschnittsverdienst orientieren, der sich aus bekannten Gehaltsniveaus zusammensetzt. Demnach sollen Hilfskräfte in Zukunft monatlich nicht mehr weniger als 3000 Euro brutto und Pflegefachkräfte nicht weniger als 4000 Euro brutto erhalten. Für die Beschäftigten sind das natürlich gute Neuigkeiten, allerdings fordern viele Sozialverbände eine Beteiligung der Pflegekassen an den zusätzlichen Kosten.

»Die Politik hat die Heimpreise völlig aus den Augen verloren«, sagt Winkelmann. »Ich schätze mal, dass in naher Zukunft über 80 Prozent der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner nach dem Aufbrauchen ihrer Reserven zu Sozialfällen werden.« Auch Berlins Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) forderte die Bundesregierung auf, die Pflegebedürftigen zu entlasten. Sie rechnet ebenfalls damit, dass mehr Pflegebedürftige bei den Sozialämtern Hilfe beantragen müssen, weil sie die Zusatzkosten nicht stemmen können. Allein in der Bundeshauptstadt seien nach Gotes Kalkulation mindestens 56 000 Pflegebedürftige von den Kostensteigerungen betroffen.

Dagegen tun könne man erst mal nichts, sagt Winkelmann. Einspruch gegen die nun erhobenen Zusatzkosten einzulegen bringe nichts, so der 63-Jährige. »Dann ›darf‹ man sich nämlich ein anderes Heim suchen, doch es gibt keines mit günstigeren Bedingungen«, sagt er sarkastisch. Und das, obwohl die Einrichtungen seiner Erfahrung nach oft in keinem guten Zustand seien. »Die Heime sehen von außen teilweise wie Fünf-Sterne-Hotels aus, das Innere ist aber marode bis in den Kern.« Winkelmanns Eindruck ist auch, dass sich die Qualität der Betreuung trotz der steigenden Kosten nicht verbessere. »Im Gegenteil: Gespart wird weiterhin am Personal und damit an der Zufriedenheit der Pflegekräfte; und zum Beispiel auch am Essen, das wirklich mies ist«, erzählt er.

Die alltäglichen Kosten, die in einem Pflegeheim entstehen, betreffen die Pflege und Betreuung, die Unterkunft (inklusive Zimmerreinigung und andere Services) sowie die Mahlzeiten. Bei Pflege und Betreuung können gestiegene Lohn- und Personalkosten zu einer Entgelterhöhung führen, so wie es nun geschieht. Zudem führen im Zusammenhang mit den sogenannten Hotelkosten – also für Unterkunft und Pflege – gestiegene Energie- und Lebensmittelkosten zu Preissteigerungen.

Die Verbraucherzentralen raten Menschen, die ein Schreiben über die Kostenerhöhung bereits erhalten haben oder noch erhalten werden, dieses genau zu prüfen. Es gebe zwar keine gesetzliche Grenze, bis zu welchem Prozentsatz die Kosten erhöht werden dürfen. Vorgeschrieben sei aber, dass die Einrichtung mindestens vier Wochen im Voraus schriftlich mitteilen muss, ab wann und um welchen Betrag das Entgelt schließlich erhöht wird. Die Erhöhung muss zudem begründet sein, und alle Posten, für die sich eine Entgelterhöhung ergibt, müssen benannt werden. Außerdem müssen Verbraucherinnen und Verbraucher die Chance bekommen, die Kalkulationsunterlagen einzusehen und zuzustimmen, bevor die Erhöhung in Rechnung gestellt werden kann. Und wenn man seine Zustimmung verweigert, müsste das betreffende Pflegeheim diese dann einklagen.

Der Verbraucherzentrale Bundesverband weist ferner darauf hin, dass sowohl die Erhöhung als auch das neue Entgelt angemessen sein müssen. Wie aber kann eine solche Erhöhung gerade zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt angemessen sein, fragt sich Jens Winkelmann. Er ist sich sicher: »Ohne uns als Familie würde meine Mutter nicht mehr leben. Wie sieht es aber mit Bewohnern ohne Angehörige aus?«

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.