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Klar, die dürfen das

Schneller als erlaubt ist Pflicht: Über die Tempogefährlichkeit der Ortsdurchfahrten

  • Fritz Tietz
  • Lesedauer: 4 Min.
Tempo 30 in Düsseldorf-Innenstadt, Merowingerstraße: Fährt man am besten 63, 87 oder 143 km/h?
Tempo 30 in Düsseldorf-Innenstadt, Merowingerstraße: Fährt man am besten 63, 87 oder 143 km/h?

Tempo 30 innerorts? Viele wollen das. Viele aber auch nicht. Vor allem Autofahrer im ländlichen Raum, Autler genannt, möchten ungern auf die flotte Ortsdurchfahrt verzichten und weiterhin mit bevorzugt fuffzig durch die Dörfer brettern. Gerne auch zügiger, wenn’s mal etwas eiliger gehen muss; also praktisch immer. Handelt sich’s gar um bestens ausgebaute Bundes- oder Landesstraßen (und welche sind das nicht?), gilt schneller als erlaubt quasi als Pflicht, wie alle, die sich an die Straßenverkehrsordnung* halten, leicht an den rückspiegelfüllenden Wutgesichtern ihrer Hinterleute ablesen können. Egal wie kurvenreich und fahrbahneng die Dorfpassagen manchmal sind. Zur Erinnerung: »Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt auch unter günstigsten Umständen innerhalb geschlossener Ortschaften für alle Kraftfahrzeuge 50 km/h« (STVO § 3 (3).

Ja gut, die Schneller-als-erlaubt-Fahrer, das sind die paar Unvernünftigen. Die überwiegende Mehrheit fährt aber angemessen und moderat. Sagen zumindest die Verkehrsbehörden. Und die müssen es wissen. Weil sie die Geschwindigkeiten auf ihren Straßen gelegentlich verdeckt messen. Und aus den Daten dann u.a. den »V85-Wert« errechnen … wie? Den V was? Ganz einfach: Wird zum Beispiel in einer Tempo-50-Zone ein V85 von 57 ermittelt, sind dort 85 Prozent aller gemessenen Fahrzeuge nicht schneller als mit 57 km/h unterwegs gewesen. Oder anderes Beispiel: Eine Tempo-30-Zone. Wird dort ein V85-Wert von 45 festgestellt, heißt das …? Richtig: 85 Prozent aller Fahrzeuge waren im Messzeitraum nicht schneller als 45 km/h. Was jetzt nicht heißt, dass alle 45 fuhren. Aber doch einige. Und etliche andere nicht schneller als 43. Oder 39. Undsoweiter. In einer 30er-Zone, wohlgemerkt.

Der V85 gilt unter deutschen Verkehrsbehördlern als einer der wichtigsten Parameter für die Tempogefährlichkeit einer Straße. Wenn man dann noch weiß, dass dessen Wert in Tempo-50-Zonen bis zu 61 hoch sein kann, ehe die zuständigen Stellen überhaupt beginnen, über geschwindigkeitsmindernde Maßnahmen auch nur nachzudenken, kann man sich leicht zusammenreimen, warum die meisten Ortsdurchfahrten hierzulande als eher tempounauffällig gelten.

Und warum die paar Anwohner, die das anders sehen, bloß so notorische Nörgler und realitätsfremde Hanseln sind. Weil es nun mal nur ihre subjektive Wahrnehmung ist, wenn sie sich bedroht und belästigt fühlen vom Geschwindigkeitsgesindel, wie sie das Raserpack in ihrem Kfz-verbiesternden Brast schon mal nennen. Weil das eben die objektiven Zahlen des V85-Werts einfach nicht hergeben. Wenn dazu noch die Unfallstatistiken der Polizei keine Auffälligkeiten aufweisen, gilt eine Straße hierzulande als safe. Wobei »auffällig häufig« erst drei bis fünf Unfälle sind. Und wenn die nur Blechschäden waren, gern auch ein paar mehr.

Da hilft es den Anti-Raser-Hanseln nichts, wenn sie auf die restlichen 15 Prozent verweisen. Also jene, in stärker frequentierten Ortspassagen schnell mal an die tausend Fahrzeuge täglich, die teils erheblich flotter durch die Dörfer kacheln. Weil diese Fünfzehnprozentigen als bloß unerhebliche Ausreißer eingestuft werden. Als die vergleichsweise wenigen eben, die deshalb in die Gesamtbewertung einer Temposituation nicht weiter einzubeziehen seien. Und von den Behörden gemeinhin auch nicht einbezogen werden. Egal, ob da innerorts einzelne mit 63, 87 oder 143 km/h unterwegs sind.

Oder mit 172 und 198 km/h, was bei einer Verkehrsdatenerfassung 2016 in der Ortsdurchfahrt einer niedersächsischen Gemeinde die Spitzenwerte (Vmax) waren. Es sei allerdings nicht auszuschließen, dass es sich dabei um Fehlmessungen handelte, wie es in der Auswertung hieß. In anderen Auswertungen sind es gern auch mal »vermutlich Einsatzfahrzeuge von Polizei oder Feuerwehr«, mit denen man solche extremen Vmax-Werte zu erklären versucht. Nichts Genaues weiß man. Aber klar, die dürfen so schnell.

Bleibt noch diese Frage: Wie erklärt man einem Fahrschüler, dass er schon bei einem geringen Tempoverstoß durch die Führerscheinprüfung rasselt, er aber als Führerscheininhaber mit bis zu 61 km/h durch hiesige Tempo-50-Zonen fahren darf? Und apropos Fahrschule: Wenn ein Auto aus Tempo 30 möglichst beherzt abgebremst wird und an einer Linie zum Halten kommt (dauert 18 Meter), wie schnell ist es noch an dieser Linie bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 60 km/h?

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