»Das Vertrauen in die deutsche Polizei schwindet«

Der Tod eines 16-jährigen Senegalesen durch Schüsse aus einer Maschinenpistole verunsichert viele Menschen in Dortmund

  • David Bieber, Dortmund
  • Lesedauer: 8 Min.

Es ist ein typischer Montagnachmittag in der Dortmunder Nordstadt. Hier leben knapp 60 000 Menschen unterschiedlichster Herkunft, oft dicht an dicht in teilweise stark renovierungsbedürftigen Altbauwohnungen. Viele junge Menschen sind auf den Straßen der früheren Industrievorstadt Dortmunds. Kinder laufen umher, einige von ihnen sind noch nicht einmal Teenager und ziehen schon an Zigaretten. Es wird gelacht. Die Sonne scheint. Vor Cafés und Wettbüros stehen rauchende und Çay trinkende Männer, die sich angeregt unterhalten. An einigen Stellen sind illegale Müllkippen entstanden. Gerade fährt ein Reinigungswagen der Stadt vorbei.

Die Stimmung ist natürlich nicht mit einem bürgerlichen Stadtteil weiter südlich zu vergleichen, wo alles seine Ordnung hat. Aber sie ist auch alles andere als aggressiv oder beängstigend, wie nicht wenige Menschen den Stadtteil gerne beschreiben. Es gibt hier keine »No-go-Areas«, obwohl es ein Kriminalitätsschwerpunkt der Stadt ist. Zur Realität gehört nämlich leider auch, dass hier harte Drogen verkauft werden und es deshalb oft zu Auseinandersetzungen kommt.

»Die Nordstadt ist in vielfältiger Hinsicht ein Stadtteil mit hohem Handlungsbedarf«, schreibt die Stadt Dortmund auf ihrer Webseite. Hier gebe es eine hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere von jungen Menschen mit Migrationshintergrund, ein hohes Armuts- und niedriges Bildungsniveau, eine ungleiche Branchenverteilung, städtebauliche Defizite sowie ein schlechtes Image – diagnostiziert die Stadt schonungslos.

In diesem Viertel kam Ende Juli der 16 Jahre alte Mouhamed Lamine Dramé an. In Dortmund wollte der unbegleitete Flüchtling aus dem westafrikanischen Senegal ein neues, besseres Leben beginnen. Dafür hat er seine Heimat vor mehr als zwei Jahren als 14-Jähriger verlassen. Mutter und Vater sowie seine Geschwister zurückgelassen. Es wird gesagt, der etwas schmächtig wirkende Mouhamed sei wegen des bekannten Fußballvereins Borussia Dortmund und dort spielenden afrikanischstämmigen Fußballern in die Ruhrgebietsstadt gekommen. Um seinen Idolen näher zu sein und ihnen womöglich nachzueifern. Träumerei? Für den jungen Senegalesen offenbar nicht.

Tragisch ist, dass sein kurzes Leben abrupt am Montagnachmittag, 8. August, von der Dortmunder Polizei mit einem umstrittenen Einsatz, der auch den NRW-Landtag beschäftigt, beendet worden ist. Ein nun vorerst suspendierter Beamter erschoss den jungen Mouhamed im Hinterhof einer katholischen Jugendhilfeeinrichtung an der Holsteiner Straße, in der Mouhamed wohnte. Mit vier Schüssen aus einer Maschinenpistole, nachdem dieser mit einem Messer auf einen Beamten losgelaufen sein soll. Zuvor sollen zwei Beamte unter Einsatz von Reizgas versucht haben, Mouhamed kampfunfähig zu machen. Nach Angaben des ermittelnden Oberstaatsanwalts Carsten Dombert habe das Eingreifen der Beamten diese Eskalation überhaupt erst herbeigeführt. Denn bis dahin sei die Lage »statisch« gewesen. Der Jugendliche habe zuvor ruhig mit einem Messer am Bauch auf dem Boden gesessen. Gegen den Schützen wird nun wegen Körperverletzung mit Todesfolge ermittelt. Die Staatsanwaltschaft prüft allerdings, ob die Ermittlungen gegen den Mann wegen Totschlags ausgeweitet werden.

Ein Betreuer hatte die Polizei alarmiert, weil Mouhamed sich ein Messer mit einer Klingenlänge von etwa 20 Zentimeter direkt vor seinen Bauch gehalten habe. Der Betreuer nahm an, der Senegalese wolle sich etwas antun. Behörden sagten nach dem Einsatz, Mouhamed sei psychisch labil gewesen, sei vor seinem Tod kurzzeitig in einer Psychiatrie in Dortmund gewesen.

Aslan* bestellt sich im unweit des Tatorts gelegenen Café Twins einen Çay. Der auskunftsfreudige Mittfünfziger nippt an seinem Tee, geht auf die Straße und fängt an zu erzählen. »Ich habe die Schüsse gehört, sie waren auch nicht zu überhören. Sechs waren es.« Aslan hat den Polizeieinsatz am 8. August aus der Nähe erlebt. Erst seien zwei Streifenwagen und einer in Zivil gekommen, insgesamt zwölf Polizisten waren vor Ort. Dann kamen zwei Krankenwagen. »Ich habe gesehen, wie sie den schwer verletzten Jungen auf der Trage an mir vorbeitrugen und in einen der Krankenwagen brachten. Der Junge blutete stark am Hals. Das war schlimm. Ich denke, dass er schon im Krankenwagen gestorben ist.« Die Schüsse trafen Mouhamed, wie die Staatsanwaltschaft in einem Bericht schreibt, in Kopf, Schulter, Unterarm und Bauch. Aslan geht einige Schritte und lehnt sich an sein Auto. »Wir hier kannten den Jungen. Er hat sich öfters etwas am Kiosk gegenüber geholt. Er war nett, so wie die anderen im Jugendheim.« Von psychischer Erkrankung keine Rede. »Das ist Quatsch. Die Betreuer, die das verbreiten, lügen«, meint Aslan. Mouhamed sei doch noch ein Kind gewesen, das durch die Fluchtgeschichte stark verängstigt sei.

Immer montags formiert sich eine Gruppe vorwiegend muslimischer und schwarzer Menschen, die durch das Viertel zieht, um »Gerechtigkeit für Mouhamed zu fordern«. Ihre Sorge: Die Polizei will den Fall bewusst herunterspielen. Weil es ein schwarzer Junge war und die Polizei falsch gehandelt, einen folgenschweren Fehler gemacht habe. Aslan bestätigt diesen Eindruck. »Die Polizei und Staatsanwaltschaft möchten nicht, dass die Wahrheit herauskommt.« Er fragt sich, wieso zwölf Beamte es nicht schafften, die Situation zu beruhigen, zu deeskalieren. »Sind die dafür nicht ausgebildet?« Und wieso gleich mit einer Maschinenpistole (MP) auf sensible Stellen und nicht ins Bein geschossen worden sei. Warum eigentlich überhaupt eine MP eingesetzt werden musste.

»Die Aufgeregtheit im Viertel und in der ganzen Stadt ist groß«, sagt Cornelia Wimmer. Sie ist für Die Linke in der dortigen Bezirksvertretung und kennt die Nordstadt entsprechend gut. »Es ist schon auffällig, dass die Polizisten ihre zahlenmäßige Übermacht bei dem Einsatz nicht strukturiert ausnutzten.« So hätten doch einige Beamte den jungen Mann ablenken können, während andere ihn dann überwältigten.

Die schwarze Community jedenfalls ist derzeit nicht nur stark verunsichert. Das Vertrauen in die deutsche Polizei schwindet immer mehr, beobachtet Veye Fatah. Die 51 Jahre alte gebürtige Kamerunerin lebt seit 30 Jahren in Dortmund. Und seit 24 Jahren leitet sie den Verein »Africa positive«. Dieser dient nicht nur Afrikanern in Dortmund als Anlaufstelle, sondern berät auch deutsche Institutionen. Für ihr langjähriges Engagement hatte Fatah 2010 das Bundesverdienstkreuz erhalten. Sie sagt: »Von dem Tod Mouhameds sind alle schwarzen Menschen betroffen.« Die Community sei wütend und schockiert. Man fühle sich nicht mehr sicher, ein Misstrauen gegenüber der Polizei nehme zu. »Hätte die Polizei auch auf einen weißen Menschen geschossen?«, fragt Fatah. Ob man sich mit ihr, Aslan oder anderen Menschen mit Migrationshintergrund in Dortmund unterhält, eines eint sie alle: Sie fordern unabhängige und umfassende Aufklärung. Derzeit führt die Polizei Recklinghausen die Ermittlungen, aus Neutralitätsgründen, wie es heißt. Aber nicht wenige zweifeln daran, ob die tatsächlich unabhängig ist. Denn gleichzeitig ermittelt die Dortmunder Polizei im Fall eines nach einem Polizeieinsatz im Landkreis Recklinghausen gestorbenen Mannes.

In der Jugendhilfe-Einrichtung etwa 100 Meter vom Café Twins entfernt, riecht es nach Pizza. Ein schwarzer Jugendlicher hat einen Backhandschuh an und grüßt höflich. Einige Jugendliche sind im Aufenthaltszimmer. Als er auf Mouhamed angesprochen wird, versteinert sich die Mine des Jugendlichen. Er klopft an das Büro der Heimbetreuer. »Wir wollen und dürfen uns dazu nicht äußern«, sagt einer der Betreuer. Es herrscht Informationssperre. Der Leiter der Einrichtung ist an dem Tag nicht anzutreffen, reagiert auch nicht auf Mails. Anrufe werden von der Zentrale nicht an ihn weitergeleitet.

NRW-Innenminister Herbert Reul von der regierenden CDU hatte sich vor zwei Wochen in einer Sondersitzung des Landtags zu dem tödlichen Polizeieinsatz erstmals vor den Parlamentariern geäußert und kürzlich einen Zwischenbericht der Ermittlungen, die Carsten Dombert von der Dortmunder Staatsanwaltschaft maßgeblich führt, dem Innenausschuss vorgelegt. Darin erfährt man etwa, dass die anderen vier maßgeblich am Einsatz beteiligten Polizisten versetzt worden sind.

Oder aber, dass es eine Tonaufnahme des Einsatzes gibt. Ein Jugendbetreuer, der an jenem Nachmittag des 8. August die Polizei anrief, blieb demnach während der gesamten Zeit des Einsatzes in der Leitung. Das Bundeskriminalamt werte die Aufnahme noch aus. Es seien Stimmen und Knallgeräusche, die von Tasern oder der Maschinenpistole stammen könnten, zu hören.
Noch gibt es eine Reihe von ungeklärten Punkten. Es sei beispielsweise unklar, ob und wie der Jugendliche mit einem Messer auf die Beamten zugegangen ist, erklärte Oberstaatsanwalt Dombert. In Kürze will er seinen Abschlussbericht vorlegen.

Derweil hat es sich ein Graffiti-Künstler nahe des bekannten »Dortmunder U«, wo einst eine lokale Brauerei beheimatet war, zur Aufgabe gemacht, dass Mouhameds Tod nicht so schnell in Vergessenheit gerät. Eine etwa 20 Meter lange Mauer hat er mit dem Gesicht des 16 Jahre alten Senegalesen mit Spraydosen gemalt. Dazu steht in großen Lettern »Mouhamed«. Jeweils daneben: »Nach nur vier Monaten in Deutschland, sieben Tage in Dortmund. Von der Polizei erschossen am 8. August 2022. Mouhamed wurde nur 16 Jahre alt.« Mittlerweile haben Unbekannte ein Fadenkreuz über Teile seines linken Auges gesprüht und das Wort »erschossen« sowie das Todesdatum mit weißer Farbe geschrieben. In Dortmund gibt es eine zwar geschwächte, aber dennoch aktive rechte Szene. Diejenigen, die Aufklärung im Fall Mouhamed fordern, dürfte das nicht einschüchtern oder gar verstummen lassen. »Ganz im Gegenteil«, sagt Veye Fatah.

* Name von der Redaktion geändert.

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