Umfassende Emanzipation

Die »Stiftung der Freien Frau in Syrien« kämpft gegen strukturelle patriarchale Gewalt

  • Elisabeth Olfermann und Christopher Wimmer, Qamischli
  • Lesedauer: 5 Min.
Eine Mobile Klinik in der Stadt Derik (Al-Malikiyah) im Nordosten Syriens.
Eine Mobile Klinik in der Stadt Derik (Al-Malikiyah) im Nordosten Syriens.

Was auffällt, ist die Ruhe: Während in der Innenstadt von Qamischli (kurdisch: Qamislo) mit dem belebten Markt reges Treiben herrscht, Autos und Motorräder hupend durch die Straßen fahren und die Generatoren brummen, die die Stromversorgung der nordsyrischen Stadt sicherstellen, herrscht bei der »Stiftung der Freien Frau in Syrien« Ruhe. Deren Zentrale liegt auf einem Hügel am Rande der Stadt, nahe der Universität. Auch der Sicherheitsbeamte, der die Einfahrt kontrolliert, wirkt gelassen. Den Empfang übernehmen zwei freundliche Angestellte der Stiftung, die uns durch einen begrünten Innenhof in das Büro von Sultana Khuschu führen. Sie leitet die Stiftung aus ihrem Büro mit Blick über Qamischli.

Das Hauptziel der Stiftung sei es, »Frauen und Kinder in Syrien in jeder Hinsicht zu helfen. Damit versuchen wir, ihre Stellung in der Gesellschaft zu stärken«, erklärt Khuschu und entschuldigt sich lachend bei unserem Übersetzer für ihre langen Sätze. Deutlich merkt man ihre Begeisterung für die Arbeit an. Mit der Stiftung wolle man dazu beitragen, struktureller patriarchaler Gewalt entgegenzuwirken, indem Frauen durch Bildung und verschiedene Gemeinschaftsprojekte gestärkt werden. Dafür hat die Stiftung zum Beispiel kommunale Gesundheitsstrukturen und -kampagnen nur für Frauen lanciert. So gibt es Seminare zu Themen wie Krebsvorsorge, Brustkrebs und Kinderkrankheiten. Darüber hinaus gibt es seit kurzem mobile Arztpraxen, die in Dörfer fahren und dort vor allem schwangeren Frauen helfen, denen es oft unmöglich ist, in eine Klinik zu fahren. Hinzu kommen soziale und psychologische Beratung – all dies kostenlos; finanziert wird die Stiftung ausschließlich über Spenden. Doch Khuschu ist mit ihren Ausführungen noch nicht am Ende. Zur Arbeit gehören ebenso Genossenschaften, Berufsausbildung sowie verschiedene Programme in Flüchtlingslagern und mit ehemaligen Anhängerinnen des sogenannten Islamischen Staats (IS). Gestartet mit wenigen Mitarbeiterinnen, sind es gegenwärtig 110 Beschäftige.

Gegründet wurde die Organisation 2014 als »Stiftung der Freien Frau in Rojava«. Nun heißt sie »Stiftung der Freien Frau in Syrien«, was den politischen Wandel in Nordostsyrien und den Anspruch der Stiftung widerspiegelt. 2012 erklärten sich die drei kurdisch-dominierten Gebiete Afrin, Jazeera und Kobane unter dem Namen »Rojava« als unabhängig vom syrischen Staat. Ein zentraler Baustein war von Anfang an Geschlechtergerechtigkeit. Nach der weitgehenden militärischen Niederlage des IS in Syrien kamen bis 2018 vorwiegend arabisch-dominierte Gebiete zur Selbstverwaltung hinzu, die seitdem den Namen »Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien« trägt. »Wir haben Büros in diesen neu befreiten Gebieten eingerichtet. Wir planen, in Zukunft auch Büros in Aleppo und Damaskus zu eröffnen«, sagt Khuschu selbstsicher. In Damaskus herrscht noch der syrische Machthaber Bashar Al-Assad.

Ein zentraler Punkt in der Herstellung der Geschlechtergerechtigkeit ist die Befähigung von Frauen zur Arbeit. So gibt es Kurse für Schneiderei, Friseurhandwerk, Computer, Sprachen und auch Fahrkurse. Im Erdgeschoss der Zentrale hat die Nähkooperative ihren Sitz. Dort lernen Frauen den Umgang mit Nähmaschinen und stellen einerseits Kleidung für bedürftige Kinder her und verkaufen andererseits selbst ihr Kunsthandwerk. Eine Arbeiterin berichtet, dass Familien nun eher akzeptieren, wenn Frauen arbeiten. In der Stiftung geht es jedoch nicht nur darum, dass Frauen ihr eigenes Geld verdienen, sondern auch um eine genossenschaftliche Zusammenarbeit: »Wir haben Genossenschaften, in denen Frauen zusammen Kleidung nähen, sie verkaufen, das Geld zusammenlegen und es dann gleichmäßig verteilen.«

All dies soll helfen, die Gesellschaft zu verändern. »In der Vergangenheit hatten Frauen in der Gesellschaft keine Rechte. Frauen wurden durch patriarchalische Strukturen unterdrückt. Selbst wenn eine Frau einen Universitätsabschluss hatte, wurde sie als dem Mann unterlegen angesehen«, so Khuschu weiter. Die Stiftung versucht nun, dazu beizutragen, diese Strukturen zu überwinden. In der Selbstverwaltung spiegelt sich das dadurch wider, dass alle Leitungspositionen paritätisch besetzt sind, und alle Räte, die die Gesellschaft verwalten, eine Geschlechterquote von mindestens 40 Prozent aufweisen.

Doch ist sich Khuschu bewusst, dass Veränderungen Zeit brauchen, und berichtet von ihrer Arbeit im Flüchtlingslager Al-Hol in der Nähe der Stadt Al-Hasakeh. Dort leben Anhängerinnen des IS. »Diese Frauen haben nur eine Idee gelernt – die des radikalen Islams. Die heißt: Frauen gehören ins Haus und in die Küche. Wir versuchen ihnen nun beizubringen, an der Gesellschaft teilzuhaben und ihre Ideologie zu verändern.«

All diese mühsame, aber notwendige Arbeit ist akut von den Kriegsdrohungen der Türkei bedroht: Ankara sieht in der Selbstverwaltung eine Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit und ist bereits dreimal völkerrechtswidrig in Rojava einmarschiert; bis heute hält sie große Gebiete besetzt. Diese Drohungen haben direkten Einfluss auf die Stiftungsarbeit. Anstelle von Sprachkursen hilft die Stiftung bei Kriegsvorbereitungen. »Wir haben Versorgungskeller mit Medikamenten und Lebensmitteln angelegt, geben gerade Erste-Hilfe-Kurse und erklären Menschen, wie sie sich in Notfällen verhalten müssen, was man bei Tränengas oder bei Verletzungen beachten muss.« Man wünscht der Stiftung und ganz Nordostsyrien, dass diese Vorbereitungen nicht notwendig sind und bald die Ruhe einkehrt, die bereits über der Stiftung liegt.

Ein Nähkurs für Frauen im Washokani-Flüchtlingslager im Gouvernement Al-Hasakeh.
Ein Nähkurs für Frauen im Washokani-Flüchtlingslager im Gouvernement Al-Hasakeh.
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