Das Märchen vom kleinen Staat

Herrscht in den USA Staatskapitalismus? Die Frage scheint geradezu verrückt ­angesichts des Marktliberalismus, für den das Land geradezu sinnbildlich steht. Teil II der ­Reihe »Waffenland USA«

  • Dorothea Schmidt
  • Lesedauer: 15 Min.
Paletten mit Munition, Waffen und anderer Ausrüstung warten im Januar 2022 auf ihren Transport aus dem US-Bundesstaat Delaware in die Ukraine. Auch die Aufrüstung anderer Staaten durch die USA regelt im Inneren der militärisch-industriellen Komplex
Paletten mit Munition, Waffen und anderer Ausrüstung warten im Januar 2022 auf ihren Transport aus dem US-Bundesstaat Delaware in die Ukraine. Auch die Aufrüstung anderer Staaten durch die USA regelt im Inneren der militärisch-industriellen Komplex

Land of the Free, Home of the Brave: So lautet das Selbstbild der USA seit dem 19. Jahrhundert, und so steht es im Text der Nationalhymne Star-Spangled Banner von 1814. Seither wurde dieser Anspruch häufig in die Parole »Free markets, free enterprise, free trade« übersetzt, so etwa von Präsident George W. Bush im Oktober 2008 – wenige Wochen nach dem Zusammenbruch der größten Bankhäuser seines Staates und den für sie eingeleiteten staatlichen Rettungsaktionen. Auch in sozialwissenschaftlichen Theorien gelten die USA als Modellfall für marktliberale Ökonomien, etwa in der einflussreichen Theorie der Varieties of Capitalism von Peter A. Hall und David Soskice, bei der solche im Gegensatz zu den »koordinierten Marktökonomien« stehen.

Zum Weiterlesen

Feinstein, Andrew: Waffenhandel – Das globale Geschäft mit dem Tod. Hamburg 2012.
Herwig, Holger H.: »One Hell of a Business«. The Genesis of the Military Industrial Complex in the United States. In: Kollmer, Dieter H. (Hg.): Militärisch-Industrieller Komplex? Rüstung in Europa und Nordamerika nach dem Zweiten Weltkrieg. Freiburg/Br. 2015: Seiten 29-48.
Melman, Seymour (Hg.): The War Economy of the United States – Readings on Military Industry and Economy. New York 1971.

Neuerdings ist allerdings vielfach von einer »Wiederkehr des starken Staates« die Rede, die vor allem daran festgemacht wird, dass seit der Finanzkrise von 2008 in vielen Ländern Rettungspakete für private Unternehmen geschnürt, Konjunkturprogramme verabschiedet und die Finanzmärkte stärker reguliert wurden. Dabei gibt es in den USA bereits seit langer Zeit die Erscheinung des »Militärisch-Industriellen Komplexes« (MIK), und sieht man sich diesen etwas näher an, dann drängen sich einem zwei Erkenntnisse auf: Erstens ist der MIK von jeher durch ein enges Zusammenspiel von Staat und Kapital geprägt, zweitens können die Interessen dieser beiden Seiten auch noch auf ganz andere Weise verklammert werden.

Anfänge einer Zweckgemeinschaft

Der Begriff »militärisch-industrieller Komplex« geht nicht, wie häufig angenommen, auf militärfeindliche Stimmen zurück, sondern auf einen General des Zweiten Weltkriegs: den späteren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower. Im Jahr 1961, am Ende seiner zweiten Amtszeit, äußerte dieser sich in einer Rede kritisch zu dem Milieu, in dem er Jahrzehnte seines Berufslebens verbracht hatte und dessen Institutionen gegenüber er stets loyal war. Er hatte erleben müssen, dass die von ihm anvisierte Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion von den kriegsbegeisterten »Falken« bei den US-Militärs und im Pentagon sabotiert wurde und sah sich nun genötigt, davor zu warnen, ein »militärisch-industrieller Komplex« könne sich »eine unbefugte Einmischung« aneignen.

Seither gilt der MIK als Zweckgemeinschaft von Rüstungsindustrie, Militärs und Teilen des politischen Apparats, der letztlich ohne demokratische Kontrolle eine anhaltende oder auch zunehmende Militarisierung der Gesellschaft durchsetzt. Seine Anfänge werden während des Ersten Weltkriegs lokalisiert, als für die Rüstungsplanungen Kommissionen eingerichtet wurden, in denen Rüstungsindustrielle, die Armee und die Regierung kooperierten. Auch im Zweiten Weltkrieg wurde ein War Resources Board eingerichtet, das ähnlich wie zuvor aus Industriekapitänen und den Beschaffungsbüros der einzelnen Waffengattungen bestand. In der Zeit von 1945 bis 1960, insbesondere im Zusammenhang mit dem Koreakrieg, machten die Militärausgaben der USA im Schnitt rund 10 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) und rund 20 Prozent der Staatsausgaben aus.

Einen erheblichen Rückgang gab es in den 1990er Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges, dann aber stiegen die Militärausgaben wieder an und lagen zuletzt 2020 bei 3,1 Prozent des BSP. Weltweit nehmen die USA einen Spitzenplatz ein, derzeit bestreiten sie allein etwa 40 Prozent der globalen Rüstungsausgaben. Mit 761 Milliarden USD lag das Budget des Department of Defense (DOD) 2020 höher als die addierten Ausgaben von China, Indien, Russland, Saudi-Arabien, Frankreich, Deutschland sowie weiteren drei Ländern. Dazu kommt noch, dass in den USA viele Militärausgaben bei versteckten Fonds oder anderen Ministerien anfallen, insbesondere für Atomwaffen beim Energieministerium und bei dem nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 neu eingerichteten Heimatschutzministerium.

Auf der anderen Seite stehen die Unternehmen. Von den weltweit umsatzstärksten Rüstungskonzernen waren 2021 die ersten fünf US-amerikanisch, von den 100 größten die Hälfte. Die fünf größten Rüstungsunternehmen der USA und der Welt sind Lockheed Martin, Raytheon, Boeing, Northrop Grummann und General Dynamics. Bei allen fünf Firmen bilden die Luft- und Raumfahrt den Schwerpunkt ihrer Geschäftsaktivitäten; häufig sind sie bei bestimmten Typen von Flugzeugen, Hubschraubern, Raketen oder Drohnen die alleinigen Vertragsfirmen für das Verteidigungsministerium.

Auch andere Bereiche der Rüstungsindustrie, insbesondere der Schiffsbau und die Herstellung von Munition für Großwaffen, sind immer schon stark konzentriert, aber bis zur Jahrtausendwende wurden große Teile der Beschaffung noch von einer Vielzahl kleinerer und mittelgroßer Unternehmen erledigt. Die (vorübergehenden) Streichungen im Rüstungsbudget nach dem Ende des Kalten Krieges brachten viele von ihnen jedoch in Schwierigkeiten, was dazu führte, dass sie häufig von den großen Konzernen aufgekauft wurden. Auf diese Art verringerte sich die Zahl der Vertragsfirmen für das Pentagon weiter.

Das Outsourcing von Dienstleistungen galt in den 90ern als neue Heilslehre und schien auch dem Militär als probates Mittel, der häufig geäußerten Kritik gegenüber ausufernden Verteidigungsbudgets zu begegnen. Doch letztlich waren es wieder die großen Rüstungskonzerne, die nach den neuen profitablen Geschäftsfeldern griffen und ihr Angebot diversifizierten. So wurden Lockheed Martin und General Dynamics zu »Walmarts of War«.

PR für die Rüstungsindustrie

Dass kapitalistische Staaten derartig hohe Rüstungsausgaben haben, ist keine Selbstverständlichkeit – in Japan etwa liegen sie sehr viel niedriger als in den USA, nämlich bei 1,1 Prozent des BSP. Es bleibt also erklärungsbedürftig, wie es dem MIK gelungen ist, sich so anhaltend in der US-Gesellschaft zu etablieren. Ein Weg der Rüstungsindustrie zum Erreichen dieses Zwecks besteht darin, Nachrichten und Expertisen über immer wieder neue Bedrohungen zu veranlassen und zu lancieren. Im Kalten Krieg geschah dies etwa gemeinsam mit der Luftwaffe: Hier wurde zuerst die Behauptung einer »Bomberlücke« gegenüber der Sowjetunion alarmistisch in die Welt gesetzt, und nachdem dort die erste Sputnik-Rakete gestartet wurde, folgte die »Raketenlücke«. Beide Lücken erwiesen sich später als nicht-existent.

In den 80er Jahren übernahmen dann große Think Tanks die ideologische Bearbeitung der politischen Entscheidungsträger*innen. Institute wie Project for the New American Century wurden zu einem erheblichen Anteil durch Spenden aus der Rüstungsindustrie finanziert und vorrangig mit Personal aus deren Reihen ausgestattet. Nach dem Ende des Kalten Krieges erklärte man die »Schurkenstaaten« Iran, Irak, Libyen, Nordkorea, Kuba und Nicaragua zur neuen Bedrohung. Um ihnen standzuhalten, müssten die USA die früher entwickelten Großwaffensysteme beibehalten und ausbauen.

Als Folge von 9/11 wurde der »Krieg gegen den Terror« ausgerufen und drei Länder als »Achse des Bösen« benannt: Iran, Irak und Nordkorea. Das bisherige Konzept der »Schurkenstaaten« wurde nun mit dem Kampf gegen das islamistische Al-Qaida-Netzwerk verbunden und auf diese Weise die Invasion Afghanistans legitimiert. Die dominanten Sektoren der Rüstungsindustrie forderten mit Erfolg, dass besonders der Ausbau der Abwehr gegen Langstreckenraketen forciert werden müsse – ungeachtet der Erfahrung, dass terroristische Angriffe üblicherweise auf ganz andere Art erfolgen, nämlich mit Sprengladungen oder Handfeuerwaffen.

Die Begründungen für die extrem kostspieligen Kriege im Irak und in Afghanistan erwiesen sich in der Öffentlichkeit jedoch zunehmend als brüchig, und so wurde seit Anfang der 2010er-Jahre der nächste Feind identifiziert: der vermeintlich bereits übermächtige wirtschaftliche und politische Rivale China. Übersetzt wurde die neue Strategie militärisch vor allem in einen wachsenden Bedarf an Technologien und Waffen für Kommunikation, Überwachung und Aufklärung.

Bisher betragen Chinas Aufwendungen für das Militär ungefähr ein Drittel derjenigen der USA (absolut gesehen), steigen aber stetig an. Das Pentagon griff auch hier wieder auf das bewährte »Lücken«-Konzept zurück und entdeckte gegenüber China eine »Schiffslücke«: Das Land verfüge über eine Kampfkraft von 360 Schiffen, die USA lediglich über 297. Allerdings handelt es sich in China meist um kleine Schiffe für die Küstenwache, bei den USA dagegen oft um eine Vielzahl von U-Booten zur Raketenabwehr mit atomaren Sprengköpfen. Gleichwohl gelang es, China als die kommende »Bedrohung Nummer eins« der amerikanischen Sicherheit in der indo-Pazifischen Region aufzubauen – die bis heute gültige Doktrin.

Die Modalitäten der Auftragsvergabe

Die Behauptung, dass sich in ihm die Konkurrenz von Unternehmen frei entfalten könne, ist das Lebenselixier des Marktliberalismus. Eine Nagelprobe dafür liegt in der Vergabepraxis von staatlichen Aufträgen: Ausschreibung oder freihändige Vergabe? Bereits in den 60er Jahren galt die zweite Form für mehr als 80 Prozent der Beschaffungen des DOD, Anfang der 80er für 96 Prozent; lediglich die Anschaffung von Büromaterial soll noch ausgeschrieben worden sein. Bei der Entwicklung neuen Kriegsgeräts sahen die Verträge vor, dass die beauftragten Firmen die Kosten erstattet bekommen und diese Summe dann mit einem Gewinnaufschlag versehen wird – demnach bestand eindeutig der Anreiz, die Kosten zu maximieren. Das DOD unternahm zwar wiederholt den Versuch, die Kosten von vornherein zu limitieren oder Zielvorgaben zu vereinbaren, doch zeigten diese Bemühungen wenig Erfolg. Die oftmals enormen Kostensteigerungen hingen häufig auch damit zusammen, dass die Abteilung des DOD, die Aufträge vergab, bei der Entwicklung komplexer Waffensysteme ständig neue Anforderungen formulierte.

Die Praxis, den Unternehmen Kosten zu erstatten, die dann mit einem Gewinnaufschlag versehen werden, hat sich gehalten und ist später noch komplexer geworden, da die Zahl der Subunternehmen, die ebenfalls Gewinnaufschläge einrechnen, sich erhöht hat. Schließlich verabschiedete das US-Parlament unter dem Druck der Rüstungsindustrie Regelungen, nach denen auf eine detaillierte Aufstellung der Kosten überhaupt verzichtet wurde. Stattdessen wurde lediglich verlangt, dass die dem DOD angebotenen Güter und Dienstleistungen als »commercial« gelten; sie ließen sich also mit zivilen marktgängigen Produkten vergleichen, was bei Kampfflugzeugen, Raketen oder spezieller Elektronik, die ja von zivilen Käufer*innen gar nicht erworben werden dürfen, wenig überzeugt. Der Rechnungswesen-Experte Charles Tiefer kam zu dem Schluss, hier herrschten »Wildwest-Methoden«.

Diese Praxis der militärischen Beschaffung und Instandhaltung hat eine weit verbreitete Kultur der Misswirtschaft und der Verschwendung mit sich gebracht. Bereits 1969 nahm ein Ausschuss des US-Kongresses dazu umfangreiche Anhörungen vor, und die Ergebnisse waren vernichtend: Von 13 großen Projekten der Luftwaffe und der Marine im Wert von insgesamt 40 Milliarden USD funktionierten nicht einmal bei 40 Prozent die elektronischen Systeme zufriedenstellend, zwei Projekte mussten nach erheblichen Investitionen ganz aufgegeben werden. Vor allem für die Luft- und Raumfahrt belegen Berichte auch für die folgenden Jahrzehnte wiederkehrende Qualitätsmängel und Kostenüberschreitungen, und selbst der militärische Nutzen (der »Gebrauchswert«) erwies sich oftmals als fraglich. Allerdings treffen Urteile über die mangelnde Funktionsfähigkeit von Waffen keineswegs auf alle Bereiche des Militärs zu. Die verheerenden Schäden an Menschen, Landschaften, Städten und Dörfern, welche die US-Armee in den Kriegen der letzten Jahrzehnte anrichtete, bezeugen das Gegenteil.

Der Globus als Waffenmarkt

Eine weitere Ebene des Zusammenspiels von Staat und Rüstungsindustrie betrifft die Rüstungsexporte, die seit jeher staatlich unterstützt werden. In den USA galt in der Zeit des Kalten Krieges die Doktrin, Waffen müssten als Instrument der Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion an alle Länder geliefert werden, die mit den USA sympathisierten oder die man auf die eigene Seite ziehen wollte. 1976 wurde mit dem Arms Export Control Act (AECA) schließlich ein Gesetz verabschiedet, das Kompetenzen und Grundsätze der Genehmigung von Waffenexporten regelte. Demnach obliegt es in erster Linie dem Präsidenten, diese zu erlauben oder zu verhindern. Dem Kongress wurden lediglich eingeschränkte Befugnisse eingeräumt, dazu informiert zu werden oder Stellungnahmen abzugeben, die der Präsident jedoch durch ein Veto jederzeit aufheben kann. Grundsätzlich gilt, dass die Empfängerländer die Waffen für ihre eigene innere Sicherheit oder »legitime« Selbstverteidigung einsetzen sollen. Außerdem sollen Exportentscheidungen Rüstungswettläufe, die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen und militärische Konflikte nicht befördern. Alle diese Formulierungen sind allerdings so vage, dass sie die Lieferung auch in internationale Konfliktregionen und an kriegsführende Parteien ermöglichten und den US-amerikanischen Rüstungsproduzenten faktisch Absatzmärkte auf dem gesamten Erdball eröffneten.

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden in vielen Ländern die Militärbudgets zunächst stark reduziert, worauf die Rüstungsunternehmen ihre Exportanstrengungen verstärkten. Saudi-Arabien stieg zum bevorzugten Empfängerland auf, umgekehrt sind die USA das bei weitem wichtigste Lieferland für Saudi-Arabien. Der Deal, der die beiden Länder verbindet, läuft unter dem Motto »Oil for security«: Saudi-Arabien soll die USA zuverlässig mit Öl beliefern, während diese dafür das Land, das als Stabilitätsanker in der Region angesehen wird, mit Waffen versorgt. Diese gut eingespielten Beziehungen wurden selbst nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht in Frage gestellt, obwohl die Mehrzahl der Attentäter aus Saudi-Arabien kamen. Ebenso wenig störte die US-Regierung, dass Saudi-Arabien sich seit 2015 im jemenitischen Bürgerkrieg engagiert hat und selbst die Ermordung des Washington Post-Journalisten Jamal Khashoggi führten nur vorübergehend zur Einfrierung der Waffenlieferungen. In anderen Ländern wiederum kommen günstige Kredite oder nicht-rückzahlbare Zuschüsse vonseiten der USA zum Tragen und auch die gezahlte Militärhilfe kann daran geknüpft werden, dass Waffen US-amerikanischer Rüstungskonzerne gekauft werden.

Der »Drehtür-Effekt«

Konkret miteinander verbunden sind die verschiedenen Teile des militärisch-industriellen Komplexes durch die Praxis der »revolving doors«: Wie durch eine Drehtür wechseln Angehörige der politischen Elite umstandslos in das Top-Management von Firmen und umgekehrt. Diese Praxis ist altbekannt und wurde bereits in den 50er Jahren durch den Soziologen C. Wright Mills kritisiert, als er aufzeigte, wie frühere Generäle nach ihrer Militärkarriere in den höheren Etagen von multinationalen Unternehmen landeten, häufig vermittelt durch Beratungsunternehmen: »rent a general«.

Das betraf allerdings nur einen relativ kleinen Kreis und es galt damals als »ungehörig«, in die Rüstungsindustrie zu wechseln. Seit den 80ern fiel aber auch dieses Tabu und es entstand eine neue Form der Zirkulation, für die Frank Carlucci, der Verteidigungsminister war und dann problemlos in die Rüstungsindustrie wechselte, als Pionier gilt. Unter Donald Trump wurde das System auf die Spitze getrieben. Er brachte es in seiner vierjährigen Amtszeit auf fünf Verteidigungsminister, von denen drei direkt aus der Rüstungsbranche ins Ministeramt wechselten: James Mattis von General Dynamics, Patrick Shanahan von Boeing und Martin Esper von Raytheon.

In den 2010er Jahren waren solche Karrieren längst allgemein üblich geworden. Wenn jemand aus einem Rüstungsunternehmen in das Pentagon wechselte und dort mit militärischen Planungen oder mit Beschaffung zu tun hatte, lag es nahe, dass er seinen früheren Arbeitgeber bevorzugt behandelte. Und wenn umgekehrt jemand aus dem Pentagon in ein Rüstungsunternehmen ging, konnte er in dieses Kenntnisse einbringen, die zwar offiziell der Verschwiegenheitspflicht unterlagen, sich aber im Interesse der Firma stets als nützlich erwiesen. Eine Untersuchung anhand öffentlich zugänglicher Quellen ergab 2006, dass in 52 wichtigen Vertragsfirmen des Pentagon rund 2500 ehemalige Generäle, Admiräle oder frühere Führungspersonen aus den militärischen Vergabebehörden beschäftigt waren.

Dieses Netzwerk umfasst auch Kongressabgeordnete der beiden großen US-Parteien, die für das stetige Anwachsen des Militärhaushalts oder Projekte bestimmter Firmen lobbyieren. Ein früherer Militärberater nennt deren gezielte Einbeziehung »political engineering«: Dem »frontloading«, sprich der übertrieben positiven Darstellung eines Rüstungsvorhabens, folgt das »Sicherheitsnetz«, indem Unteraufträge auf möglichst viele Wahlbezirke verteilt werden, um deren Unterstützung zu sichern.

Politische Gegenbewegungen

Der MIK sollte jedoch nicht als unkontrollierbarer Moloch gesehen werden, dem Politik und Gesellschaft sich immer resigniert ergeben hätten. Es gab immer wieder Versuche, seine Macht zurückzudrängen oder gar aufzulösen, so setzte sich etwa der demokratische Senator George McGovern im Anschluss an Eisenhowers Abschiedsrede für ein radikales Gegenkonzept zum MIK ein. Er sah in den Ausgaben des Pentagon ein riesiges Arbeitsbeschaffungsprogramm, das man auf sinnvollere Ziele umlenken sollte und hielt eine Konversion der Rüstungsindustrie für möglich: »grüne Arbeitsplätze« zum Schutz der Umwelt. Die Vorschläge fielen in die erste Zeit einer weit verbreiteten Kritik an Umweltzerstörungen, die ihren Kristallisationspunkt in dem aufrüttelnden Buch von Rachel Carson Silent Spring (1962) fanden und eine Vielzahl engagierter Umwelt-Initiativen entstehen ließ. McGovern entwarf das Projekt einer National Economic Conversion Commission, das 1964 bei seiner Vorstellung im Senat große Resonanz hervorrief, letztlich aber nicht einmal in seiner eigenen Partei durchzusetzen war.

Parallel dazu war im akademischen Bereich Seymour Melman an der Columbia University der erste, unter dessen Leitung das eiserne Dreieck von Rüstungsindustrie, Militär und DOD – für ihn der »Pentagon Capitalism« – eingehend untersucht wurde. Das stärkere Engagement der Regierung im Vietnam-Krieg versetzte jedoch sämtlichen Projekten der Rüstungskonversion den Todesstoß. Einen neuen Anlauf unternahm in den 70er Jahren John Kenneth Galbraith von der Harvard University. Auch er prangerte die inzwischen bekannten Phänomene der überhöhten Preise und der eklatanten Funktionsmängel der Rüstungsindustrie an und sah die Lösung in ihrer Verstaatlichung. Es gelang ihm, Teile der Gewerkschaften auf seine Seite zu ziehen (»labor for peace«), während ihm sonst in politischen Kreisen Phantasterei oder die Einführung des Sozialismus vorgeworfen wurden.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Hoffnung auf eine »Friedensdividende« für zivile Vorhaben entstanden zwar zahlreiche neue Grassroots-Bewegungen, aber im Kongress wurden letztlich – in sonst unüblicher parteiübergreifender Einigkeit – immer wieder gigantische Rüstungsbudgets beschlossen. Kritisiert werden sie aktuell lediglich von den Abgeordneten der Demokratischen Partei, die dem Congressional Progressive Caucus (CPC), also dem linken Flügel der Partei, angehören.

Im April 2022 hat Präsident Biden fürs kommende Jahr einen Budgetvorschlag präsentiert, der die höchsten Militärausgaben in der Geschichte der USA darstellen wird. Begründet wird er mit wachsenden internationalen Aufgaben und dem Krieg in der Ukraine. Der CPC hält dagegen, dass die bereits jetzt zehnmal höheren Ausgaben der USA im Vergleich zu Russland dieses nicht davon abgehalten haben, die Ukraine anzugreifen. Ein weiterer Anstieg würde die internationale Lage demnach nicht sicherer machen, sondern lediglich den MIK und seine Kultur der Verschwendung weiter stärken und die finanziellen Spielräume für eine bessere Sozialpolitik einschränken.

Auf Konversion wagt mittlerweile niemand mehr zu hoffen. Die in den 60er und 70er Jahren machtvolle Friedensbewegung hat sich letztlich als zu schwach erwiesen, um Projekte der Abrüstung und der Konversion in der Öffentlichkeit populär zu machen – und für die sozialen Bewegungen scheinen inzwischen andere Themen wie die Klimakrise im Vordergrund zu stehen. Doch Militär und Klimaprobleme haben viel mehr miteinander zu tun, als man dies auf den ersten Blick annehmen würde, gehört die US-Armee doch weltweit zu den größten CO2-Emittenten. Zählte man sie als Staat, dann würde sie auf der entsprechenden Liste Platz 47 einnehmen. Es wäre also zu hoffen und zu wünschen, dass die Kritik am Militärapparat auch von dieser Seite her wieder neuen Auftrieb bekommt.

Eine längere Version dieses Artikels erschien als Teil des Heftschwerpunkts in PROKLA 208: StaatsKapitalismus, 52. Jg., Heft 3, September 2022. Bertz + Fischer, 196 Seiten, 15 Euro.
Zu finden auch unter: https://www.bertz-fischer.de/prokla208
Teil I der Reihe »Waffenland USA« ist zu finden unter dasnd.de/weltmacht

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