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Städte schlafen nie – oder jetzt doch?

Nicht jedem gefällt der nächtliche Beleuchtungsstopp aus Robert Habecks Gassparplan. Schließlich entwickelte der Kapitalismus schon im 19. Jahrhundert einen regelrechten Lichtfetisch

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 5 Min.
Ausschnitt einer Postkarte, die den beleuchteten Eiffelturm 1889 zeigt.
Ausschnitt einer Postkarte, die den beleuchteten Eiffelturm 1889 zeigt.

Warte, bis es dunkel wird! Dann springen sie an, die Lichter der Großstadt. Strahler, Scheinwerfer und Kaufhausfassaden verlängern den Tag bis zum Morgengrauen. So war es jedenfalls bis vor Kurzem. Doch seit einigen Wochen bekommt die Nacht die Chance zurück, wieder ein bisschen mehr Nacht zu sein. Zwischen Kiel und München versinken die urbanen Hotspots der Republik reihenweise in Dämmerschlaf. Dunkle Plätze, tote Boutiquen und historische Altstädte, die irgendwie an die Kulissen eines expressionistischen Gruselfilms erinnern. Grund für all das ist die umstrittene »Energieeinsparverordnung«, mit der Wirtschaftsminister Robert Habeck die Auswirkungen der Gaskrise abfedern will. Beleuchtete Werbeanlagen, lautet einer der Kernpunkte der seit September geltenden Vorschrift, sollen nachts von 22 bis 6 Uhr in den Ruhemodus. Zudem hat das dauerhafte Anstrahlen von öffentlichen Gebäuden und Denkmälern zu unterbleiben, sofern es nur aus rein ästhetischen oder repräsentativen Gründen geschieht.

Neben rechtslibertären Leugnern der Klimakatastrophe laufen vor allem unternehmensnahe Kreise gegen das staatlich verordnete Lichtausknipsen Sturm: So schimpfte etwa Wolfgang Steiger vom CDU-Wirtschaftsrat über »die kleinteilige und völlig überzogene Regelungsflut« des grünen Vizekanzlers. Der Fachverband Außenwerbung sah gar das Medium Leuchtreklame »einseitig diskriminiert« (und erwirkte einige Änderungen).

Wenn man in die Kulturgeschichte der Neuzeit blickt, so kann der Unmut gerade aus dieser Ecke kaum überraschen. Schon lange bevor Frank Sinatras New-York-Hymne die Stadt, die niemals schlief, besang, definierte sich die moderne Metropole durch ihre energetische Illuminationskraft. Mit dem Siegeszug der Gasbeleuchtung und später der Elektrizität entwickelte der Kapitalismus bereits im 19. Jahrhundert einen regelrechten Lichtfetisch. Besonders die Weltausstellungen zelebrierten eine Kultur der verschwenderischen Helligkeit. Mit einer riesigen Lichterkette behängt, präsentierte sich der Eiffelturm 1889 als gigantischer Christbaum im Pariser Nachthimmel. Vier Jahre später in Chicago war dann gleich das gesamte Gelände der Weltausstellung taghell illuminiert. Technische Premiere feierte dort das Prinzip des Wechselstroms, der im Unterschied zum Gleichstrom ohne Spannungsverluste über weite Distanzen verschickt werden kann.

Mit den luminaristischen Spektakeln der Belle Epoque änderte sich auch die Wirkungsästhetik von Architektur grundlegend. Besaß nächtliche Monumentalbeleuchtung anfangs noch den Charakter eines zeitlich begrenzten Events, so wurde daraus bald schon eine permanente Praxis. Staatliche Bauherren und Unternehmen begannen im 20. Jahrhundert die visuelle Platzhirschmacht ihrer Architektur auch in der Nacht auszuspielen. Dass der durchscheinende Werkstoff Glas nun günstiger und in größeren Flächenquadratmetern zur Verfügung stand, begünstigte diese Entwicklung.

Für die Büro- und Geschäftstürme, die ein Mies van der Rohe entwarf, war die nächtliche Strahlkraft zunächst noch der Sekundäreffekt des kristallisch transparenten Bauens. Globalisierte Konzerne von heute dagegen beziehen bei ihren Investorentempeln von Anfang die Nachtseite mit ein. Bestes Beispiel ist vermutlich die imposante ringförmige Ummantelung der Münchener Allianz-Arena von Herzog und de Meuron, die wechselnde Farbgestalten annehmen kann. Ähnliches Kalkül verfolgt Jean Nouvels Torre Glòries (früher Torre Agbar) aus Barcelona. Der phallische Riese mit der Aluminiumhaut untermauert durch seinen nächtlichen Ausstrahlungsradius, der weit über das eigene Grundstück hinausgeht, das Einflusspotenzial des Gebäudebesitzers auf den öffentlichen Raum. Aber auch die öffentliche Hand macht gerne mit: Die Scheinwerfer, die normalerweise vom Kölner Dom bis zum Heidelberger Schloss glühen, stehen in Diensten des Stadtmarketings. Touristenziele wollen ihre Instagram-Tauglichkeit rund um die Uhr behaupten.

Keine Frage, Licht besaß und besitzt auch emanzipatorische Effekte: Ohne günstige Lampen gäbe es keine Nachtkultur. Rauschende Festnächte bis zum Morgengrauen wären, wie im Feudalzeitalter, immer noch das Privileg der Oberschicht. Auch die historischen Arbeiterbildungsvereine und der Sozialismus hätten sich ohne bezahlbare Beleuchtung vielleicht weniger gut organisiert. Tagsüber fehlte den Proletarier*innen des 19. Jahrhunderts schließlich die Zeit zum Lesen und Lernen.

Dennoch holen wir uns mittlerweile zu viel des Guten aus den Steckdosen. Dagegen regte sich auch unabhängig von der aktuellen Situation Kritik. Vor einiger Zeit ging in den sozialen Medien ein Video aus Frankreich viral. Zu sehen sind darauf junge Menschen, die die Mauern hochsteigen, um Modegeschäften, Immobilienbüros und Fastfood-Restaurants das nächtliche Reklamelicht auszumachen. Die Notschalter für die Werbebeleuchtung befinden sich nämlich meist über der Tür beziehungsweise oberhalb des Schaufensters, weshalb sie nur mit Kletterkunst erreichbar sind.

Die Aktivist*innen aus dem Twitterfilmchen, welches vor der Ukraine-Invasion entstand, protestieren nicht nur gegen die allgemeine Stromvergeudung, sondern wollen auch für das weniger bekannte Problem der Lichtverschmutzung sensibilisieren. Unnatürliche Helligkeit, so mahnen Forschende, wirkt sich in vielerlei Hinsicht schädlich auf Lebewesen aus. Der menschliche Schlaf-Wach-Rhythmus wird ebenso negativ beeinflusst wie das Brutverhalten von Vögeln. Zudem, warnt der Bund für Umwelt- und Naturschutz, erweise sich die Non-Stop-Beleuchtung als Todesfalle für einige Insektenarten.

Bereits vor über einem Jahrhundert erhoben sich kritische Stimmen gegen den Stressfaktor Licht. Der Architekt und Stadtplaner Ernst May, als Vertreter des Neuen Bauens gewiss kein Antimodernist, bemerkte 1928 in Bezug auf den Broadway bei Nacht: »Hier liest das Auge keine Schrift, hier unterscheidet es keine Form mehr, hier wird es nur noch geblendet durch eine Überfülle von Lichtgeflimmer.«

Doch die kapitalistische Glitzermetropole lässt sich ihre visuelle Reizüberflutung nur ungern nehmen. Denn die Erfindung der Leuchtwerbung kurz vor 1900 bedeutete einen Katalysator für das Verkaufsbedürfnis, eine Ausweitung der Konsumzone. Fortan blieben auch Spätheimkehrer und Nachtschwärmer nicht von merkantilen Flüsterbotschaften wie »Kauf mich!«, »Iss mich!« oder »Trink mich!« verschont. Dieses Marketing rund um die Uhr war quasi die zweite Stufe einer industriellen Lichtrevolution. Zuvor bereits hatte preisgünstigere Beleuchtung mehr Nachtarbeit in den Fabriken ermöglicht. Und damit eine bessere Ausnutzung menschlicher wie maschineller Arbeitskraft. Gaslaternen und Glühbirnen wiesen den Weg zu einer hyperaktiven Leistungsgesellschaft, die sich bis weit nach Sonnenuntergang abrackert. Deshalb gebieten nicht nur ökonomische wie ökologische Vernunft weniger Lightshow und Werbegefunkel. Auch aus Gründen der kollektiven Psychohygiene wäre es klüger, den Röhren- und Lampenterror zu meiden und die geschäftige Dauerbeleuchtung herunterzudimmen. Der Hellste macht das Licht aus!

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