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Angst, Schmerz und Wut auf die Täter

Simone Müller porträtiert Überlebende des NS-Regimes in der Schweiz

  • Ulrich Schneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Auffällig ist, wie sich gut sieben Jahrzehnte nach dem Ende der faschistischen Herrschaft in Europa Historiker und Publizisten in der Schweiz mit Überlebenden und Verfolgten des NS-Regimes beschäftigen. Jahrzehntelang galt das gesellschaftliche Selbstbild, dass man als »neutraler Staat« mit historischer Aufarbeitung nichts zu tun habe. Erst als die »glänzende Fassade« durch die öffentlichen Auseinandersetzungen um Raubgold, Raubkunst, um die verweigerte Aufnahme von Flüchtlingen oder verfolgten Menschen sowie die Geschäfte mit dem faschistischen Deutschland selbst in der Kriegszeit mehr als eine »politische Schramme« bekommen hatte, begannen Forschungen auch zur antifaschistischen Seite der Schweizer Geschichte. 

Es erschienen erste Veröffentlichungen über Schweizer in den Reihen der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg. Dass jedoch die Errichtung beispielsweise einer Gedenktafel nur dem Engagement der Zivilgesellschaft zu verdanken war, macht deutlich, welche Grenzen in der Erinnerungspolitik weiterhin bestehen.

Auch die Ausarbeitung über Schweizer als Häftlinge in deutschen Konzentrationslagern ging auf die Initiative eines Journalisten zurück, bevor öffentliche Einrichtungen Unterstützung leisteten (René Staubli, „Schweizer KZ-Häftlinge», 2019). Und nicht zuletzt die beeindruckende Dokumentation und Präsentation von Kinderzeichnungen ehemaliger Buchenwald-Häftlinge, die nach der Befreiung in Schweizer Kinderheimen entstanden, wäre ohne solch zivilgesellschaftliches Engagement nicht zustande gekommen.

Simone Müller, freie Journalistin in Bern mit umfangreichen Auslandserfahrungen, legt nun gemeinsam mit der Fotografin Annette Boutellier eine eindrucksvolle Sammlung von 15 Porträts von NS-Überlebenden vor, deren Weg sie nach dem Krieg in die Schweiz geführt hatte. Sie wuchsen in sehr unterschiedlichen kulturellen, sozialen, sprachlichen und geografischen Kontexten auf. Sie stammen aus elf Ländern und ihre Verfolgungserfahrungen sind so unterschiedlich wie ihre Geburtsdaten. Der Älteste ist 99 Jahre, die Jüngsten sind 80 Jahre alt. Deren Familien lebten als Juden im Verborgenen in den okkupierten Territorien in Belgien bzw. den Niederlanden, sodass ihr Leben vom ersten Moment an bedroht war.

Nachfragen hat der Rezensent nur zur Auswahl der Zeitzeug*innen. Sie repräsentieren nämlich – mit einer Ausnahme – nur die Gruppe jüdischer Überlebender. Vielleicht ist es in der Schweiz wirklich schwierig, verfolgte Sinti und Roma zu finden, aber die Gruppe der politisch Verfolgten komplett auszublenden, ist unverständlich. Womöglich liegt es am Fokus des persönlichen Erinnerns. Denn mehrfach wird in dem Band selbst kritisiert, wie sich in der Schweiz heute das Interesse an Überlebenden auf offizielle, ritualisierte Gedenkveranstaltungen oder auf Zeitzeugengespräche in den Schulen beschränkt.

Simone Müllers Ansatz ist dagegen ein persönlicher. Sie interessiert weniger die Geschichte der Verfolgung, sondern das, was es mit den ehemaligen Verfolgten gemacht hat. Die Porträts sind von hoher Sensibilität. Dazu hat die Autorin intensive Gespräche geführt, von denen die ersten oftmals dazu dienten, ein Vertrauen zu den Porträtierten aufzubauen, bevor die Texte entstehen konnten. Sie zeigen eindrucksvoll, dass man nicht nur über die Verfolgungsgeschichte sprechen muss, sondern dass es oftmals die kleinen Dinge des alltäglichen Lebens sind, die Erinnerungen auslösen, mit denen sich das persönliche Schicksal anschaulich verbindet

Eine eindrucksvolle Ergänzung zu den Texten sind die Fotografien von Annette Boutellier. Es gelang ihr, mit den Bildern die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Überlebenden einzufangen – das, was für diese von Bedeutung ist, selbst deren Ängste, wenn zum Beispiel die jüngste Befragte ein Kinderfoto vor ihr Gesicht hält, weil sie selber nicht abgebildet werden möchte. Neben der Tatsache, dass einzelne Porträts auch mit einem Pseudonym auskommen mussten, zeigen diese Bilder unausgesprochen, wie es knapp acht Jahrzehnte nach der traumatischen Verfolgungserfahrung bei manchen Zeitzeugen immer noch Unsagbares gibt, das sie bis ins hohe Alter begleitet.

Simone Müller konstatiert: »Erzählen bedeutet immer auch, noch einmal mit der eigenen Geschichte konfrontiert zu werden, mit der Angst, dem Schmerz und der Wut auf die Täter. Manchmal brechen lange unter Verschluss gehaltene Emotionen hervor, die als überwältigend empfunden werden.« In ihren Porträts versuchte die Autorin, dieser Schwierigkeit der Überlebenden mit hoher Empathie zu begegnen. Es ist ihr eindrucksvoll gelungen. 

Simone Müller: Bevor Erinnerung Geschichte
wird. Überlebende des NS-Regimes in der Schweiz heute. Limmat-Verlag, 250 S., geb., 38 €.

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