30 Jahre Mölln: Wie ein zweiter Anschlag

İbrahim Arslan überlebte den rechten Terror in Mölln und kämpft seitdem für eine Gedenkkultur aus Sicht der Opfer

  • Uli Kreikebaum
  • Lesedauer: 7 Min.

Am 23. November ist der rassistische Brandanschlag von Mölln, bei dem ihre Großmutter Bahide, ihre Schwester Yeliz und ihre Cousine Ayşe starben und sie selbst mit viel Glück und dank ihrer Großmutter überlebten, 30 Jahre her. Wie geht es Ihnen in der Zeit vor den Gedenktagen?

Wenn die Jahrestage näherkommen, kommen meine Träume wieder. Ich träume dann von der Küche, in der ich die brennenden Töpfe sehe, als meine Oma mich in feuchte Tücher wickelte, bevor sie in den Flammen verschwand. Ich träume von Details in der Küche. Meine Knochen tun weh, ich huste viel mehr als sonst. Ich habe infolge des Anschlags eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten und bin zu 50 Prozent schwerbehindert. Das macht sich in diesen Tagen sehr stark bemerkbar. Es sind aber weniger die Bilder des Anschlags an sich, die mich belasten, sondern mehr der gesellschaftliche Umgang damit.

Interview

Beim rechtsextremistischen Brandanschlag von Mölln am 23. November 1992
starben Bahide, Yeliz und Ayşe Arslan. İbrahim Arslan überlebte als Siebenjähriger schwer verletzt, weil seine Großmutter Bahide ihn in feuchte Tücher wickelte, bevor sie selbst verbrannte. 30 Jahre später kämpft der 37-Jährige weiterhin für eine andere Gedenkkultur – und prangert den Umgang mit seiner Familie an.

Zum Beispiel auch, dass in den Tagen davor viele Journalisten anrufen und immer dieselben Fragen stellen?

Vor allem, dass es das ganze Jahr über still ist und nur zu den Gedenktagen berichtet wird, ist für mich ein Zeichen dafür, dass unsere Stimmen noch nicht so gehört werden, wie sie gehört werden müssten. Wenn ich erzähle, wie wichtig es ist, mit den Betroffenen auf Augenhöhe zu sprechen, sie in die professionelle Beratungs, Kultur- und – und Bildungsarbeit zu integrieren, stoße ich bis heute oft auf Erstaunen und Ignoranz.

Was meinen Sie mit professioneller Arbeit?

Alle Überlebenden von Anschlägen, Betroffene und Angehörige arbeiten bis heute rein ehrenamtlich. Dabei ist ihre Perspektive für die Aufklärungs- und Bildungsarbeit unersetzlich. Es geht darum, dass die Perspektiven von Migranten*innen, auch und gerade von Betroffenen rechter-rassistischer und antisemitischer Gewalt, zum Bildungskanon gehören. Das ist leider bis heute nicht der Fall. Die Folge ist – zum Beispiel – dass die Fälle von rassistischer und antisemitischer Gewalt wieder stark steigen. Das ist beängstigend. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten viel erreicht: Künstlerische sowie kulturelle Interventionen wie Filme, Bücher, Theaterstücke, Bildungsbausteine und sogar Gedenkmahnmale sind eigenermächtigt von Betroffenen entstanden, wir haben für den Anschlag von Mölln die Gedenkveranstaltungen selbst in die Hand genommen – wenn unsere Arbeit aber professionell gefördert würde, hätten wir in Deutschland heute schon eine ganz andere, respektvolle Gedenkkultur.

Das Gedenken fokussiert sich oft auf wenige Persönlichkeiten – zum Beispiel auf die kürzlich verstorbene Mevlüde Genc, die den Brandanschlag von Solingen überlebte und mit der sich deutsche wie türkische Politiker sehr gern zeigten.

Genau diese Fokussierung ist ein großes Problem. Wenn die Shoah-Aufarbeitung sich lediglich auf Anne Frank reduziert, wird sie verharmlost – das Leben von Anne Frank wird instrumentalisiert und das Leben der anderen wird ignoriert. Die Gesellschaft fügt den Betroffenen durch solch eine Fokussierung noch mehr Leid zu – und trägt zu einem sogenannten zweiten Anschlag bei.

Unter denen man Retraumatisierungen versteht. Wie war das bei Ihrer Familie?

Man hat immer wieder versucht, unsere Familie zu instrumentalisieren. Wir sind – wie ich natürlich erst viel später erfahren habe – auch direkt nach dem Anschlag stigmatisiert und kriminalisiert worden. Trotz der Bekenneranrufe der Täter hat man unsere Familie beschuldigt. Wir mussten in das abgebrannte Haus zurückziehen. Es gab sehr viele zweite Anschläge.

Das Stadtarchiv Mölln hat bis 2019 mehrere Hundert Solidaritäts-Briefe nicht an sie weitergegeben Briefe, die an Ihre Familie adressiert waren, auch viele Hilfsangebote.

Auch das ist eine wichtige Dimension des zweiten Anschlags. Was hätten sie gemacht, wenn Sie nach 27 Jahren zirka 800 Briefe mit Solidaritätsbekundungen entdeckt hätten, die an Sie adressiert waren? Wir haben erst 27 Jahre nach dem Anschlag erfahren, dass uns aus Deutschland und der ganzen Welt Menschen geschrieben und Hilfe angeboten haben. All das wurde uns vorenthalten. Uns haben auch Shoah-Überlebende geschrieben und ihre Vernetzung angeboten – Kontakte, die so wichtig gewesen wären.

Wie hat die Stadt Mölln begründet, dass die Briefe nicht weitergeleitet wurden?

Die Stadt sagt, dass wir die Möglichkeit gehabt hätten, die Briefe abzuholen. Wir wussten aber gar nichts von ihrer Existenz. Jetzt versuchen sie, es in die Schuhe der migrantischen Community zu schieben: Die Briefe seien in der türkischen Teestube gesammelt worden – das stimmt nur zum Teil, der größte Teil landete sofort bei der Stadt und kam dort ins Archiv. Die Briefe waren an uns adressiert. Man weiß doch, dass man eine Straftat begeht, wenn man diese Briefe unter Verschluss hält.

Haben Sie Strafanzeige gegen die Stadt Mölln gestellt?

Noch nicht, nein. Aber vielleicht werden wir das noch tun. Es sind langjährige Prozesse, die wir als Familie mit uns tragen. Zu einigen Themen haben wir eine unterschiedliche Meinung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir noch Anzeige erstatten. Wir haben als Familie erst einmal entschieden, dass die Briefe vernünftig und würdevoll archiviert werden müssen. Und das gelingt am besten in einem Museum für Migration, das mit Domid in Köln entsteht.

Auch das Haus der Geschichte in Bonn verfügt über Objekte, die in ihrem Haus waren.

Das Haus der Geschichte hat Objekte aus unserem Haus ausgestellt, ohne uns vorher zu fragen. Die Objekte wurden ihnen wohl von einem Politiker übergeben, mit dem sie dann angeblich einen Vertrag gemacht haben. Wir sind mit dem Haus der Geschichte deswegen im Rechtsstreit. Wir werden die Objekte, die zweifelsfrei aus unserem früheren Haus in der Mühlenstraße in Mölln kommen, einklagen.

Wie haben Sie erfahren, dass zum Beispiel ein grünes Telefon aus ihrem früheren Haus dort ausgestellt ist?

Eine Bekannte hat uns davon erzählt. Ich habe das Museum angerufen und gefragt, ob da Objekte von uns ausgestellt werden, ohne uns vorher zu informieren. Der Mitarbeiter sagte mir, setzen Sie sich doch einfach in die Bahn, kommen sie vorbei und schauen es sich an, der Eintritt ist kostenfrei! Da war ich einmal mehr fassungslos. Und habe ihm gesagt: Ich glaube, Sie verstehen nicht, wer ich bin. Schließlich hat sich der Museumsleiter mit uns auseinandergesetzt und gesagt, die Familie könne vorbeikommen. Es blieb respektlos – kein Wort der Entschuldigung, dass man uns nicht gefragt hatte. Es war ein herabwürdigender Umgang mit einer Migrantenfamilie, die Opfer des rassistischen Anschlages geworden ist. Ein weiterer zweiter Anschlag.

Wie sähe ein angemessener Umgang mit der Geschichte rassistischer Anschläge in Deutschland aus?

Diese Frage mit den Betroffenen zu diskutieren, wäre ein Schritt in die richtige Richtung.

Sie haben immer wieder betont, dass die Betroffenen mehr gehört werden müssen.

Gedenken und Erinnern sind wie ein Zahnrad. Das reine Gedenken muss den Betroffenen und den Angehörigen gehören. Wenn wir über Gedenken sprechen, ohne die Betroffenen einzubeziehen, bleibt es eine Inszenierung des Gedenkens. Wenn wir erinnern, tragen wir einen solidarischen Beitrag. Die nicht betroffene Gesellschaft muss einen angemessenen Umgang mit der Erinnerung finden. Dabei muss klar sein, dass die Herrschaft über das Gedenken den Betroffenen überlassen wird.

Sie haben kürzlich gesagt, Vertrauen in den Staat sei für Sie eigentlich nicht möglich. Trotzdem kämpfen Sie weiter. Was gibt Ihnen Vertrauen?

Ich vertraue mir selbst. Ich vertraue meiner Familie und Freunden. Ich vertraue auch der Solidaritätsgesellschaft. Vor allem vertraue ich den heranwachsenden Schülern*innen in den Schulen, mit denen ich Bildungsarbeit mache. Die junge Generation ist sensibler und wacher. Themen wie Gleichberechtigung, Gendergerechtigkeit, Antirassismus und Antifaschismus sind für sie selbstverständlich. Ich bin überzeugt, dass die junge Generation die Gesellschaft positiv verändert – auch die Gedenkkultur.

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