In größter Not

»Winter Counts« von David Heska Wandbli Weiden erzählt von Verbrechen und Karthasis in den Reservaten

  • Eric Breitinger
  • Lesedauer: 3 Min.

Virgil Wounded Knee arbeitet als privater »Vollstrecker« im Rosebud-Reservat im US-Bundesstaat South Dakota. Für ein paar Hundert Dollar bricht der Hüne Vergewaltigern die Finger – und verschafft ihren Gewaltopfern so vielleicht etwas Gerechtigkeit. Denn Beamte der Bundespolizei FBI lassen sich im Reservat selten blicken. Viele Straftaten bleiben ungesühnt, die Opfer sich selbst überlassen. Die Aufträge sichern Virgil ein mageres Auskommen. Er haust zusammen mit seinem 14-jährigen Neffen Nathan, Sohn seiner verstorbenen Schwester, in einer Baracke. Sie leben von der Hand in den Mund. Virgil selbst hat keine Ambitionen – außer einer: Er will Nathan ein gutes Zuhause bieten und ihn vor den Gefahren schützen, die um ihn herum lauern.

Eines Abends findet Virgil Nathan bewusstlos in seinem Bett – eine Überdosis Heroin. Er alarmiert die Ambulanz, belebt seinen Ziehsohn wieder und rettet ihn. Und er nimmt vom Chef der Behörden des Reservats den Auftrag an, die Dealer aufzuspüren. Er fährt nach Denver. Seine Ex-Freundin Marie begleitet ihn. Virgil legt sich mit dem mexikanischen Azteken-Kartell an, das sich anschickt, das Reservat mit Heroin zu fluten, und schon mal mit den Schulhöfen anfängt.

David Heska Wandbli Weiden nimmt sich in seinem Debütroman viel Zeit für die Einführung der Personen und das Auslegen der Handlungsfäden. Das wirkt lange spannungsarm, bis die Handlung im letzten Viertel quasi explodiert – und in einem Showdown gipfelt. Der Autor schaut genau hin, beschreibt präzise. »Winter Counts« liefert so überraschende Einblicke in eine ansonsten hermetisch verschlossene Welt. Der Autor ist selbst Bürger der Sicangu Lakota Nation und lebte lange in Reservaten. Viele Bewohner sind arbeitslos, von psychischen Problemen geplagt und den Traditionen ihrer Vorfahren entfremdet. Die Suizidrate ist hoch – Spätfolgen des Genozids durch die weißen Kolonisatoren. »Winter Counts« überzeugt durch eine geschickte Mischung aus knallhartem Kriminalroman und genauer Erkundung der Lebenswelt der Native Americans: Der Roman hat mehrere Literatur- und Krimipreise gewonnen – und war für den Edgar Award nominiert, den wichtigsten US-Krimi-Preis. 

Vor allem aber berührt »Winter Counts« durch einen Protagonisten, der eine Katharsis durchlebt. Virgil hat sich schon als Jugendlicher von den alten Stammestraditionen abgewandt. Doch in der größten Not besinnt er sich auf seine indigene Identität – bestärkt durch seine Doch-wieder-Freundin Marie, eine Aktivistin, die die indigene Küche wiederbeleben will. Virgil reinigt Kopf und Körper in der Schwitzhütte, lässt sich auf die Yuwipi-Rituale des Medizinmanns ein und folgt seinen Visionen. So findet er auch die Lösung des Falls. Und am Schluss schenkt er im Kampf seinem ärgsten Widersacher das Leben, die größte Tugend eines Lakota. 

David Heska Wandbli Weiden: Winter Counts. A. d. amerik. Engl. v. Harriet Fricke. Polar-Verlag, 462 S., br., 16 €. 

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