Irrer Rationalismus

Verschwörungsmythen gehörten immer zur modernen Gesellschaft. Warum aber sind sie momentan allgegenwärtig? Zwei neue Bücher versuchen eine Aufklärung

In John Carpenters Film »They Live« (1988) blickt der Held John Nada mit einer Sonnenbrille plötzlich hinter die Fassade des Konsumkapitalismus. Die bunten Werbebotschaften entpuppen sich als Befehle der Herrschaft: Obey, gehorche! Ist das jetzt Kapitalismuskritik oder Verschwörungstheorie?
In John Carpenters Film »They Live« (1988) blickt der Held John Nada mit einer Sonnenbrille plötzlich hinter die Fassade des Konsumkapitalismus. Die bunten Werbebotschaften entpuppen sich als Befehle der Herrschaft: Obey, gehorche! Ist das jetzt Kapitalismuskritik oder Verschwörungstheorie?

Kurz vor seinem Tod 2015 holte der weltberühmte Soziologe Ulrich Beck noch einmal zu einer großen Welterklärung aus. Die »Metamorphose der Welt« wollte er begreifen und stellte seinem gleichnamigen Buch ein bemerkenswertes Vorwort voran: Wenn es etwas gäbe, auf das sich die Menschen über alle Grenzen hinweg heute einigen könnten, dann sei es die Formel »Ich begreife die Welt nicht mehr«. Tatsächlich gehört es schon lange zum Alltagsverstand, dass die Welt aus den Fugen geraten ist.

Es gibt zu viele und zu große Krisen der Wirtschaft, Demokratie, der Kultur und Umwelt gleichzeitig. Die Apokalypse steht uns mittlerweile jeden Tag vor Augen. Ist es da nicht logisch, dass sich die Menschen nach einfachen Antworten sehnen und sich lieber irgendwelchen schlüssigen Erklärungen hingeben, anstatt die große Unsicherheit aushalten zu müssen? So lautet jedenfalls die landläufige Erklärung für die gegenwärtige Hochkonjunktur an Verschwörungsmythen, Desinformation und Irrationalismus. Verschwörungsgläubige seien abgedriftet, armselige Spinner oder wirre Aluhutträger*innen. Nicht erst seit der Großrazzia gegen die Reichsbürgerszene ist aber offensichtlich, dass das Phänomen damit weit unterschätzt und vor allem nicht begriffen ist.

Fake News, postfaktisches Zeitalter und Bewegungen von QAnon bis zu Coronaleugner*innen stellen die Öffentlichkeit vor ein Rätsel. Auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung herrscht bisweilen Ratlosigkeit, wenn erklärt werden soll, warum diese offensichtlich irrationalen Narrative und Welterklärungen so große Anziehungskraft haben. Zwei sehr unterschiedliche Bücher nehmen sich nun der Aufgabe an, das Verschwörungsdenken aufzuklären: Der Soziologe Nils C. Kumkar ergründet in seiner Studie zu »Alternativen Fakten« deren gesellschaftliche Funktion und die italienische Philosophin Donatella Di Cesare wägt in ihrem Essay »Das Komplott an der Macht« eine Berechtigung des Verschwörungsdenkens ab.

Unbehagliche Moderne

Jede Untersuchung zum Verschwörungsdenken muss zunächst feststellen, dass es keineswegs ein neues Phänomen darstellt. Die Welt war bereits vor 100 Jahren aus den Fugen. Der marxistische Intellektuelle Georg Lukács etwa beschrieb 1920 in seiner »Theorie des Romans« jene »transzendentale Heimatlosigkeit«, die das Leben in der modernen bürgerlichen Gesellschaft auszeichne. Man könne sich daher nur eine heile Welt herbeifantasieren oder müsse sich der »Stimmung einer permanenten Verzweiflung über den Weltzustand ergeben«. Seiner Zeit war die Öffentlichkeit voll von konservativem Kulturpessimismus, dem Jammern über Werteverfall, einem Schimpfen auf die dummen Massen und ihre Demokratie oder auf den Verlust der Sicherheiten. Es handelte sich damals schon um den zugespitzten Ausdruck des Umstands, dass die moderne bürgerliche Gesellschaft nun einmal Ergebnis einer gewaltigen Veränderung war. 

Wie Karl Marx und Friedrich Engels es im »Manifest« formulierten: »Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus.« Sie hatten eine kommunistische Revolution vor Augen, weil ihnen die Erschütterung aller Zustände dies erst als möglich erscheinen ließ. Die permanente Unsicherheit ist die Grundlage für ein Geschichtsbewusstsein beziehungsweise die »Entdeckung der Geschichte«, wie es marxistisch heißt. Und ohne dieses Wissen um die Veränderbarkeit gäbe es keine bürgerliche Freiheit. Aber die Unwägbarkeit, dass alles immer auch anders sein könnte, erzeugt auch ein ozeanisches Gefühl, wie es Sigmund Freud diagnostizierte, eine Uferlosigkeit und schließlich ein »Unbehagen in der Kultur«.

Bereits zur Mitte des 20. Jahrhunderts brachte man dieses Unbehagen in Zusammenhang mit dem zerfallenden Liberalismus und dem Aufbegehren totalitärer und faschistischer Herrschaft. Sozialpsychologie hieß dieser Ansatz. Leo Löwenthal zeigte etwa in seinen »Studien über faschistische Agitation« aus den 1940er Jahren, dass Faschismus das gesellschaftliche Unbehagen zum Machtgewinn ausbeutet. Die »Falschen Propheten«, wie er die Agitatoren nannte, gaben den Menschen eine scheinbare Lösung ihres Ambivalenzkonflikts vor, nämlich projektive Verarbeitung, Sündenböcke und jede Menge Angebote, die gesellschaftliche Ohnmacht in einem Aktivismus der Pogromstimmung zu verdrängen. Am Ende läuft die »Lösung« des Faschismus auf die Überwindung der Freiheit selbst in der Gewaltherrschaft hinaus.

Solche Analysen lassen sich selbstverständlich nicht einfach auf die Gegenwart übertragen, auch wenn deutlich wird, dass Verschwörungsdenken die aufgeklärte Gesellschaft von Anfang an begleitet hat. Die Parallele erlaubt es aber, die richtigen Fragen zum Verständnis der gegenwärtigen Attraktivität des Verschwörungsdenkens stellen zu können. Wenn wir verstehen wollen, warum so viele Menschen eine falsche Deutung der Welt oder gleich den Wahnsinn wählen, müssen wir den zugrundeliegenden Konflikt begreifen. Für welches Problem ist das Denken in Verschwörungen und Unwahrheiten eine Lösung? 

Kommunikative Realitätsdestruktion

Einer vergleichbaren Frage geht Nils Kumkar in seiner Arbeit zu »Alternativen Fakten« nach. Die merkwürdige Wortneuschöpfung geht auf das berühmte Interview des Journalisten Chuck Todd mit der Beraterin des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, Kellyanne Conway, zurück. Damals hatte der Pressesprecher des Weißen Hauses behauptet, dass zur Amtseinführung Trumps »das größte Publikum, das jemals einer Amtseinführungsfeier beiwohnte«, erschienen sei und die Medien absichtlich falsch darüber berichtet hätten. Conway verteidigte wiederum diese Falschbehauptung des Sprechers Sean Spicer mit dem Argument, er habe über »alternative Fakten« verfügt. Seitdem gilt dieses Motiv als geflügeltes Wort für die seltsame Mischung aus Wissenschaftspositivismus und Irrationalität: Fakten leugnen und mit wirren Details und Daten widerlegen.

Kumkar erkennt darin eine Symptomatik: den Ausdruck für »eine tiefgreifende Verunsicherung in der gesellschaftlichen Selbstverständigung«, die auch die Konjunktur des Verschwörungsdenkens und des politischen Fanatismus bedinge. Die Verunsicherung, von der Kumkar schreibt, besteht weniger darin, dass eine feste Weltsicht oder Wirklichkeitswahrnehmung ins Wanken geraten ist. Über Objektivität und Wahrheitsansprüche wurde immer gestritten. Neu sei hingegen, dass auch darüber gestritten wird, »wer was aus welchen Gründen für wirklich hält«. 

Alternative Fakten zeugten daher von einer eigenwilligen Verschiebung im Diskurs, die bisher noch gar nicht richtig begriffen sei. Kumkars linke Aneignung der Systemtheorie stellt das Problem wie folgt dar: Dass alternative Fakten ein weit verbreitetes Phänomen sind, zeige, dass sie effektiv sind, sprich effektive Problemlösungsstrategien. Entsprechend seien alternative Fakten der »Ausdruck der gesellschaftlichen Unfähigkeit, politische Konflikte als solche zu bearbeiten« und müssten über die Probleme, die sie lösen sollen, verstanden werden. 

In vier Fallstudien beleuchtet Kumkar diese Probleme beziehungsweise »kommunikativen Kontexte«, wie er es nennt: Am Beispiel der Pressekonferenz Sean Spicers zeige sich etwa eine politische Legitimationskrise, über die mit alternativen Fakten hinweggetäuscht werde. Spicer ebenso wie Conway und später Trump selbst bedienten sich dazu eines Musters der Irritation oder »Überblendung« und erzeugten ein »kommunikatives Rauschen«. Indem sie alternative Fakten einbringen, sagen sie: »Ich weiß nicht, ob ich … recht habe, aber ich weiß, dass die Gegenseite lügt, wenn sie suggeriert, sie könne beweisen, dass ich lüge«.

Die zweite Studie des Buches widmet sich der schier alternativlosen Katastrophe des Klimawandels, die, »wenn man sie anerkennen würde, eine Radikalität politischen Handelns verlangte, die man um jeden Preis verhindern will«. Der unrealistisch große Handlungsbedarf könne über die Leugnung der eindeutigen Befunde hinausgezögert werden. Daher bestehe die Taktik in der »unbestimmten Negation«, die man bereits daran erkenne, dass dem Weltklimarat, dem Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), einfach dessen Negation entgegengestellt werde: NIPCC, das Non-governmental International Panel on Climate Change.

Als Drittes widmet sich Kunkar den sozialen Medien, jenen »Arenen der Identitätsbehauptung«. Die Idee, dass Verschwörungsdenken und Fake News den Echokammern und Diskursverrohungen der sozialen Medien entspringen würden, hält Kumkar für Kulturpessimismus. Er sieht den Bezug auf alternative Fakten dort eher als eine Selbstvergewisserung demokratischer Subjekte und zwar vor dem Hintergrund des Problems einer zunehmenden Entpolitisierung der Politik. Während sich die Pandemiepolitik immer weiter zu einer Diktatur ausweite, so die Wahrnehmung der Verschwörungsgläubigen, blieben sie selbst gewissermaßen der Prüfstein einer freiheitlichen Ordnung.

Schließlich sei so auch die Bewegung der Querdenker der Ersatz für eine politische Opposition in der Technokratie, eine Art Platzhalter für Alternativen, die im politischen System nicht mehr geleistet werden könnten. Damit erklärt sich Kumkar zumindest, dass Querdenken massenmedial dauerpräsent war, zugleich aber von allen offiziellen Seiten abgekanzelt wurde.

Alternative Fakten seien damit nicht eigentlich Lösungen, sondern vielmehr ein Ablenkungsmanöver von Problemen, die als nicht lösbar erscheinen. Es gehe daher auch nicht um deren Tatsachengehalt, nicht einmal um die Frage von Wahrheit und Wirklichkeitsbezug, sondern um diese kommunikative Funktion. Was die alternativen Fakten von bloßen Falschaussagen, Irrtümern oder Lügen trennt, sei ihre Wirkung als »kommunikative Realitätsdestruktion«: die Verdrängung von Wahrheiten. Das erkläre auch den Umstand, »dass die Kritik alternativer Fakten sich nicht nur als zahnlos erweist – sondern eben ironischerweise ihre kommunikative Funktion erst voll zum Tragen bringt«. Kumkar schließt daher mit dem Plädoyer, sich den zugrundeliegenden Problemen zu widmen, die erst eine solche Strategie der alternativen Fakten notwendig mache.

Die umfangreiche Beschreibung des Phänomens vom Bezugsproblem her kann zwar plausibel machen, dass es alternative Fakten bis hin zum Verschwörungsglauben gibt, erklärt aber nicht deren Massenfaszination. Bei Kumkar erscheinen sie wie eine rationale Diskursstrategie und damit nur wie ein weiteres, wenn auch entferntes, Element des demokratisch-liberalen Status Quo. Ihm entgeht damit, dass die Destruktivität, die er den alternativen Fakten durchaus bescheinigt, für sich selbst eine Attraktivität hat. Sie kann gerade nicht rationalistisch beziehungsweise funktionslogisch begriffen werden. Denn die Zerstörungswut und -lust richtet sich, so könnte man sagen, gegen die Rationalität selbst. Der Zerstörungswille gegen die Vernunft folgt nicht nur einer Kommunikationsstrategie, sondern ist der Hass auf jene liberale Ordnung, die für gesellschaftliche Entbehrungen und Demütigungen als Ganze bestraft werden soll. Eine solche Aggression lässt sich eigentlich nur sozialpsychologisch fassen, in einer gesellschaftstheoretischen Deutung, die über die Beschreibungsebene der Systemtheorie hinausgeht. 

Wer hat die Macht?

Wie aber lässt sich der aktuelle Stellenwert des Verschwörungsdenkens im gesellschaftlichen Ganzen bestimmen? Dazu macht der Essay »Das Komplott an der Macht« von Donatella Di Cesare einen Vorschlag und führt zugleich die Fallstricke einer solchen Deutung vor Augen. Die italienische Philosophin will das Verschwörungsdenken als gesellschaftliches Produkt begreifen, nämlich als projektive Verarbeitung der anonymen und verselbständigten Machtverhältnisse im Kapitalismus. Allerdings reduziert die Autorin den sozialpsychologischen Zusammenhang schnell auf den Kurzschluss, dass die Menschen an Verschwörungen als »unmittelbare Reaktion auf überbordende Komplexität« glaubten. Verschwörungserzählungen seien wie eine intellektuelle Zuflucht gegenüber der Unsicherheit der modernen Gesellschaft.

Für Di Cesare sind Verschwörungsgläubige damit einerseits »Nostalgiker der Lesbarkeit«, die sich im zunehmenden Chaos der aus den Fugen geratenen Welt in einfache Erklärungen flüchten. In diesem Glauben gäbe es wenigstens irgendeine Ordnung und bestenfalls sogar einen Feind, den man im äußersten Fall auch bekämpfen kann. Die Suche nach einem versteckten Machtgefüge entspringe also der gesellschaftlichen Ohnmachtserfahrung und diffusen Bedrohungslage. Auf der anderen Seite steckt aber im Wittern der Verschwörung auch ein kritischer Impuls, eine Skepsis oder, mit Paul Ricœur gesprochen, eine »Hermeneutik des Verdachts«. Diese Kritik sei nicht nur wichtig, um die realen Verschwörungen von Watergate bis zu den behaupteten Massenvernichtungswaffen im Irak zu erkennen. Sie ist für Di Cesare auch eine Grundbedingung der Emanzipation.

Die Autorin stellt sich damit gegen einen »wohlfeilen Anti-Komplottismus«, der gegen einen »Irrationalismus« wettert und pathologisiert. Stattdessen sucht sie nach dem Moment, das den Verdacht gegen die Realität mit deren wirklicher Beschaffenheit verbindet. Dafür dient ihr der Begriff des Komplottismus: Das Komplott unterscheide sich noch einmal etwa von der Verschwörung und der Konspiration. Verschwörungen suggerierten den Schwur einer Gemeinschaft, die sich auf Grundlage eines Ehrenkodex gegen die bestehende Ordnung wende, und Konspiration rufe das Bild subversiver Machenschaften revolutionärer Umstürzler hervor. Das Komplott beziehe sich eher auf »eine gedrängte, dichte Masse, eine Kollektivität, in der die Einzelnen unerkannt bleiben, eine namenlose Gesamtheit, ein Komplex ohne jedes Gesicht«. Diese Vorstellung entspreche jener Macht, wie sie sich Michel Foucault vorgestellt hat: eine omnipräsente und alles durchdringende, produktive Beziehung ohne Zentrum und Steuerung. Das Komplott ist, so Di Cesare, »die Maske der Macht in Zeiten der Macht ohne jedes Gesicht«.

Im Komplott werde diese Macht – genauer: das Unbehagen, das sie erzeugt – greifbar. Di Cesare spricht vom Komplott als einem Dispositiv, wie sie in Anlehnung an Foucault und Giorgio Agamben ausführt, und meint damit in etwa einen Knotenpunkt der Macht, an dem diese fassbar werde. Komplottismus ist dann das Bedürfnis, das eigentlich chaotische Wirken der Macht zu vereinheitlichen, ein vermeintliches Muster zu enttarnen. Hierbei wirke ein »Ursachen-Trieb«, den schon Friedrich Nietzsche den furchtsamen Kleingeistern attestierte. Dabei, so die vermeintlich radikale Einsicht, gebe es gar keine Ursache oder letzten Grund für das Wirken der Macht. Die demokratische Gesellschaft und »die Macht des Volkes ist ein Rätsel, eine mysteriöse ›Leere‹, die sich bei genauerem Zusehen mit allerlei Gespenstern füllt«, so Di Cesare.

Die Philosophin bezieht sich hier auf eine düstere Ontologie der Macht, die über die Entwicklungslinie von Nietzsche bis Martin Heidegger eine lange und nicht unproblematische Tradition hat. Auch der Autorin dient sie bisweilen als willkommene Ausrede für das eigene Raunen. Weil das Komplott »beständig entweicht und sich verbirgt«, bleibt auch die Analyse im Ungefähren, etwa wenn Di Cesare kryptisch festhält: »Das Komplott ist die konstitutive Form einer Welt, die der kapitalistischen Hybris unterworfen ist und von der Allmacht des Staats beherrscht wird«. Es ist nicht ganz einfach, daraus schlau zu werden. Denn einerseits handelt es sich beim Komplott um eine Konstante der Moderne, eine Projektion, die dem Unbehagen in der bürgerlichen Gesellschaft entspringt und antisemitische Ressentiments erzeugt. Andererseits erlebten wir momentan, dass »das Ressentiment eine beispiellose politische Rolle und existenzielle Dimension erlangt« hat. Aber wie lässt sich diese enorme Politisierung erklären?

Die Vorstellung Di Cesares scheint zu sein, dass, je größer der Druck auf die Menschen werde – weil die Macht umfassender und unfassbarer werde oder schlicht weil die Apokalypse dieses Mal wirklich vor der Tür steht –, sie desto mehr die Projektion zur Kompensation bräuchten, und desto notwendiger werde also die Vorstellung, alles sei ein Komplott. Anders gesagt: Desto mehr wird gute, kritische Skepsis »zu einem Dogma« und in dieser Verdinglichung »verwandelt der Verdacht sich in ein Gefängnis«. Phantasmen vom tiefen Staat, der neuen Weltordnung, dem großen Austausch und anderen Wiedergängern der antisemitischen »jüdischen Weltverschwörung« sind dann genau genommen so etwas wie verzerrte und verdinglichte Herrschaftskritik. 

Das ist selbst eine gefährliche Vorstellung. Der Komplottismus wird von der Autorin einerseits als eine Art Notwehr begriffen, in der »der verlorene und orientierungslose Bürger, der nicht in der Lage ist, sich in der zunehmenden Komplexität zurechtzufinden … zu einem potenziellen Komplottisten« wird. Was aber unterscheidet die kritische Philosophin Di Cesare von den scheinbar hilflosen Komplottisten? Was wäre denn der gute Umgang mit der Krise? Di Cesare ist der Unsicherheit nicht ausgeliefert, weil sie das universale Chaos der mysteriösen Leere anerkennt und aushält. Das ist aber nicht mehr als ein Glaubensbekenntnis, mit dem sie aus dem Sein kurzerhand das Sollen macht, dass die Welt nun einmal unergründlich sei.

Andererseits unterschätzt sie damit die Komplottgläubigen nicht nur, sondern verharmlost sie. Der Komplottismus, sagt Di Cesare selbst, ist nicht nur ein Delirium, um die gesellschaftliche Ohnmacht und Demütigung zu verdrängen, sondern mobilisiert Gewalt. Die Geschichte des Antisemitismus – und sie erkennt an, dass jeder Komplottismus tendenziell antisemitisch ist – zeigt, dass das Angebot des Ressentiments nicht nur die Illusion einer heilen Welt ist, sondern zur Vernichtung drängt. Die Enttarnung der dunklen Machenschaften des Feindes ist eigentlich nicht zu trennen von der gewaltvollen Bestrafung und Rache.

Der Sinn der Zerstörung

Kumkars systemtheoretische Analyse und Di Cesares Essay unterliegen in letzter Instanz einer merkwürdigen Rationalisierung, die das irrationale Moment von Verschwörungsdenken eher ignoriert als erklärt. Kumkar meint, Irrationalismus treffe das Phänomen nicht, weil alternative Fakten gar keinen Anspruch auf Tatsachenwirklichkeit hätten, sondern Wirklichkeitsbezug stören sollen. Di Cesare wehrt den Irrationalismusvorwurf ab, weil sie den Ursprung des Komplottismus im rationalen, oder besser im kausalen Denken sieht. Die Komplottisten »entpuppen sich bei näherem Hinsehen als die extremistischen Erben aufklärerischer Ideale«.

Di Cesares Selbstkritik des rationalen Denkens und dessen Anteil an der Projektion der Verschwörung geht dabei nicht weit genug. Sie gelangt schließlich zu einer geschichtslosen Vorstellung von Macht. Die Aufgabe wäre aber, die historisch spezifische Gesellschaft zu bestimmen, in der nicht nur Unwahres geglaubt wird, sondern dieser Irrglaube eine enorme politische Relevanz bekommt. Die Subjekte des Verschwörungsdenkens sind nicht einfach hilflose Verdränger*innen oder Funktionsstrateg*innen, die wieder auf den vermeintlich richtigen Weg eingeschworen werden können. Ihre Irrationalität ist eine politische Kampfansage gegen das rationale Prinzip selbst und damit letztlich gegen den Liberalismus und seine Ordnung. Dieser destruktive und gewaltvolle Aspekt des Verschwörungsdenkens ist es, der unbedingt begriffen werden muss.

Nils C. Kumkar: Alternative Fakten. Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung. Suhrkamp 2022, 336 S., pb., 18 €.
Donatella Di Cesare: Das Komplott an der Macht. Matthes & Seitz 2022, 139 S., br., 18 €.

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