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Mit Bürger-Hartz noch immer arm

In Brandenburg sind die Arbeitslosenzahlen gesunken, aber die Armutsquote ist gestiegen

  • Matthias Krauß
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer weiß schon, dass Brandenburg im deutschen Armutsvergleich gar nicht so schlecht dasteht? 15,2 Prozent seiner Einwohner gelten als arm, in Rheinland-Pfalz sind es 15,4 Prozent, in Hessen 16. Fast jeder vierte Bremer ist arm, aber nicht einmal jeder neunte Bayer.

Mit diesen Angaben überraschte Armutsforscherin Dorothee Spannagel vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung. Sie hielt das Hauptreferat bei einer Armutstagung der brandenburgischen Linksfraktion im Potsdamer Landtagsschloss. Auch innerhalb Brandenburgs verblüffen die Quoten. Denn mit 17 Prozent armen Menschen geht es der Bevölkerung im schicken Potsdam gar nicht so gut, wie man glauben mag. In der Uckermark liegt die Quote dagegen mit 15,8 Prozent niedriger. In Frankfurt (Oder) ist Armut so verbreitet wie nirgends sonst in Brandenburg. Mit einer Quote von 24,8 Prozent liegt die Stadt etwa gleichauf mit Bremen. Am wenigsten von Armut betroffen sind die Einwohner im Landkreis Potsdam-Mittelmark. Hier wird eine Quote von 8,5 Prozent verzeichnet.

Als armutsgefährdet gilt, wem weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung stehen. In Regionen mit hohem Durchschnittseinkommen wird also auch der als arm angesehen, bei dem das anderswo nicht der Fall wäre. Spannagel erläutert: Ein Ein-Personen-Haushalt in Brandenburg ist arm, wenn ihm weniger als 1200 Euro im Monat zur Verfügung stehen – netto wohlgemerkt. Steuern sind da schon abgezogen, auch Alimente für Kinder.

Brandenburgweit ist die Armutsquote von 14,3 Prozent im Jahr 2010 auf 16,8 Prozent im Jahr 2019 gestiegen. Vom relativen Aufschwung nach 2010 haben die Armen nicht profitiert, obwohl die Arbeitslosenzahlen stark gesunken sind. Die vergangenen zwei, drei Krisenjahre müssen diesen Befund noch verstärkt haben, ist Spannagel überzeugt: »Sie haben wie ein Brandbeschleuniger gewirkt.« Eine solche Entwicklung vollziehe sich überall in Europa, »aber nirgends so schnell wie bei uns in Deutschland«.

Es nimmt nicht Wunder, dass Arme weniger reisen, sich seltener neue Kleidungsstücke kaufen, in kleineren und deutlich schlechter ausgestatteten Wohnungen zumeist abgesondert von den Vierteln der Bessergestellten leben, entschieden weniger Freizeitaktivitäten außerhalb der eigenen Wohnung nachgehen und ungesünder leben. Sie fühlen sich unzufriedener als andere Menschen, sind im Schnitt desinteressierter an politischen und gesellschaftlichen Fragen und vertrauen der Politik wie auch den staatlichen Institutionen weniger. Dafür stimmen sie in höherem Maße als andere Aussagen zu, die als »populistisch« gelten.

Die Landesvorsitzende des Arbeitslosenverbandes Inga-Karina Ackermann zweifelte die These an, Arme seien nicht unbedingt bedürftig. Die Tafeln, die Bedürftige gegen einen geringen Obolus mit Lebensmitteln versorgen, stoßen allerorten an ihre Kapazitätsgrenzen. Gerade dadurch werde in Brandenburg unmittelbar Not wieder erlebbar, sagte Ackermann. Ihr Verband sei aufgrund steigender Gewerbemieten gezwungen, einen Teil der Tafeln, Wärmestuben und Kleiderkammern zu schließen.

Mit dem neuen Bürgergeld soll die Unterstützung für die Ärmsten um 53 Euro im Monat steigen. So viel sollen sie mehr erhalten als nach dem gegenwärtigen Hartz-IV-Satz. Ackermann glaubt nicht, dass dies reichen wird. Sie wusste von den Armen zu berichten: »Sie sparen am Nötigsten.« Inzwischen werde schon von »Bürger-Hartz« gesprochen. Arme Menschen seien stigmatisiert, resignieren vielfach und kämpfen mit Depressionen. Ackermann zeigte sich erstaunt darüber, wie viele Menschen den Armen eine eigene Schuld an ihrer Lage zuweisen.

Andreas Kaczynski, Sprecher der Landesarmutskonferenz, wies darauf hin, dass Alleinerziehende in besonderem Maße Kandidaten für ein Leben in Armut seien, Kinder also heutzutage ein Armutsrisiko darstellen. Die zunehmende Zahl der Flüchtlinge habe das Armutspotenzial noch einmal erhöht. Im Rahmen der Coronahilfe seien »Milliarden rausgeschmissen worden an Menschen, die es nicht nötig haben«. Außerdem müsse man auch an diejenigen denken, die knapp über der Armutsgrenze liegen.

Zur Frage der Elternbeiträge für die Kitas, die das Land Brandenburg schrittweise aufhebt und perspektivisch ganz abschaffen möchte, gab es keine Übereinstimmung mit Linksfraktionschef Sebastian Walter. Während Walter für die komplette Befreiung aller Eltern von Kitagebühren eintritt, geht für Kaczynski Beitragsgerechtigkeit vor Beitragsbefreiung.

Sebastian Walter erinnerte daran, dass drei Viertel der Armen gar nicht arbeitslos seien. Vielfach pflegen sie Angehörige, seien selbst krank oder gegen ihren Willen auf eine Teilzeitstelle gesetzt. Sie seien »arm trotz Arbeit« und müssten sich ungerechterweise des Vorwurfs erwehren, charakterschwach und Schmarotzer zu sein. Die Tagung der Linksfraktion am Dienstagabend im Landtag war die erste in einem geplanten Veranstaltungszyklus »Forum Gerechtigkeit«. Dabei sollen im vierteljährlichen Abstand Tagungen zu relevanten Themen stattfinden.

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