A100-Verlängerung: »Klimaautobahn – das ist völliger Unfug«

Der Mobilitätsforscher Weert Canzler im Interview zum Ausbau der A100 und Strategien progressiver Verkehrspolitik

Wird am 27. August eröffnet: Der nächste Bauabschnitt der A100 von Neukölln nach Treptow-Köpenick.
Wird am 27. August eröffnet: Der nächste Bauabschnitt der A100 von Neukölln nach Treptow-Köpenick.

Am 27. August soll der nächste Abschnitt der Autobahn A100 eröffnet werden. Was ist davon zu erwarten?

Ein neues Stück Autobahn zu eröffnen, ist ein absolut fatales Signal – gerade in Zeiten, in denen es darum geht, die Klimakrise in den Griff zu bekommen. Und für den Verkehr wird der neue Abschnitt auch nicht viel bringen. Die nächste Engpassstelle entsteht dann dort, wo der neue Abschnitt endet. Das heißt, die Probleme werden lediglich verlagert und der Druck, den nächsten Bauabschnitt auch in Angriff zu nehmen, wird steigen. Das Argument ist immer das Gleiche: Wenn ein Engpass besteht, muss mit mehr Infrastruktur geantwortet werden. Das ist eine Logik von vermeintlichen Sachzwängen, die überhaupt nicht mehr zeitgemäß ist.

Die CDU betont immer wieder, dass diese neue Autobahn eine Klimaautobahn sei, weil dort dann E-Autos fahren würden.

Das hört sich eher an wie eine Schlagzeile aus dem Postillon. Klimaautobahn – das ist völliger Unfug. Die komplette Umstellung auf E-Mobilität dauert noch lange. Und in der Zwischenzeit wird wahnsinnig viel CO2 in die Luft gepustet. Wenn man sich die Klimabilanz der Sektoren anschaut, ist der Verkehrsbereich das Sorgenkind schlechthin. Die Energieversorgung und auch die industrielle Produktion machen große Fortschritte. Im Verkehr hingegen geht es, auch wenn die E-Mobilität langsam hochgefahren wird, nicht voran. Der entscheidende Punkt wäre eine Verlagerung des Verkehrs: weg vom motorisierten Individualverkehr, hin auf die Schiene, auf das Fahrrad. Das wird durch eine Autobahn nicht angegangen. Im Gegenteil, es wird so getan, als könne man den Autoverkehr so aufrechterhalten wie bisher. Von einer Klimaautobahn zu sprechen, ist insofern blanker Hohn.

Interview

Weert Canzler ist Mobilitätsforscher und seit 1993 am Wissenschafts­zentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) tätig.

Wenn man in Berlin unterwegs ist, sieht man aber, dass sich der Verkehr immer mehr staut. Wenn die Autobahn keine Lösung ist, wie kann man das Problem dann angehen?

Zunächst einmal ist es nicht so, dass die Stauzeiten zunehmen, auch wenn es den Anschein hat. Vielmehr nimmt die durchschnittliche Fahrleistung pro Fahrzeug ab, während die Anzahl an Fahrzeugen weiter steigt. Es gibt also mehr Autos, die aber vor allem herumstehen. Das macht die Situation ein bisschen unübersichtlich und widersprüchlich. Es gibt aber immer mehr Baustellen, vor allem weil die Infrastruktur in die Jahre gekommen ist und repariert werden muss. Das sind Brücken, Tunnelabschnitte und natürlich auch die Fahrbahnen selbst. Das ist die Hauptursache für die täglichen Staus. Dass die nicht zwangsläufig zunehmen müssen, zeigt übrigens der Brückenabriss von der A100 in Westend. Der erwartete Super-Stau ist nicht gekommen, weil sich offensichtlich das Verhalten ändert. Leute fragen sich, ob sie eine Fahrt machen oder nicht, Lkw nehmen andere Wege. Es ist ja kein Naturgesetz, dass der Autoverkehr immer zunehmen muss. Das hängt davon ab, was an Angebot da ist. Und die Geschichte des Straßenverkehrs zeigt: Ein neues Angebot an Straßeninfrastruktur zieht Verkehr an. Das gilt für alle Verkehrsarten, auch für die Alternativen zum Auto.

Wenn so viele Autos nur herumstehen, findet dann auch eine Verlagerung hin zum öffentlichen Nahverkehr und zum Fahrrad statt?

Ja, aber nicht in gewünschtem Maße. Das Ziel der Bundesregierung war es, den Anteil des Nahverkehrs bis 2030 zu verdoppeln. Davon sind wir meilenweit entfernt. Wir können froh sein, wenn wir den Wert von vor der Coronakrise bald wieder erreicht haben. Das heißt, es muss massiv umgesteuert werden. Und das geht natürlich nur, wenn das Angebot besser wird. Gleichzeitig muss man aber auch die Privilegien des privaten Autos zurückschrauben. Eine Verkehrswende funktioniert nur, wenn beides gemacht wird. Es kann nicht sein, dass man für das Parken eines privaten Autos auf öffentlichen Straßen nichts oder fast nichts bezahlt. In welchem anderen Lebensbereich werden einem für private Vorteile solche Geschenke gemacht?

Straßenverkehr ist ja nicht nur Mobilität. Der Autoverkehr in der Hauptstadt ist immer noch extrem tödlich. 2025 gab es schon 25 Verkehrstote, 2024 waren es 56. Gleichzeitig gab es in Helsinki innerhalb eines Jahres keinen einzigen Verkehrstoten. Was könnte Berlin machen, um dem erklärten Ziel »Vision Zero« näherzukommen?

Man könnte genau das machen, was Helsinki gemacht hat, nämlich Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit auf allen Straßen einführen, auch auf den Hauptstraßen. Eine weitere Maßnahme wäre die Entschärfung der Kreuzungen. Das heißt, die Zufahrt auf eine Kreuzung wird für Fahrzeuge verengt, sodass sie abbremsen müssen. Fahrradfahrer haben immer den Platz vor den Autos. Die meisten Unfälle passieren an Kreuzungen, gerade für Fußgänger und für Fahrradfahrer sind sie gefährlich. All das sind Dinge, die dann notwendigerweise zulasten von Stellplätzen gehen. Das andere ist, dass in Helsinki diese Verbote und diese Geschwindigkeitsbegrenzungen auch tatsächlich überwacht werden.

Aktuell werden ja Tempo-30-Zonen wieder abgewickelt.

Inhaltlich ist das überhaupt nicht zu begründen. Also zu sagen, dass die zur Luftreinhaltung geschaffenen Tempo-30-Zonen abgeschafft werden, weil sie erreicht haben, dass die Luftqualität besser geworden ist. Jetzt sollen die Zonen abgeschafft werden und dann kommen sie möglicherweise wieder, wenn die Luftqualität wieder schlechter wird. Wenn man sich umguckt in anderen Metropolen der Welt – und das macht man ja gerne in Berlin –, dann kann man sehen, dass überall eine aktive Verkehrspolitik betrieben wird. Nicht nur in Helsinki. Da ist Bologna, da sind Paris, London, Brüssel. Von Wien, Zürich, Amsterdam oder Kopenhagen müssen wir gar nicht erst reden. Alle, die verkehrspolitisch ambitioniert sind, gehen in Richtung Tempobegrenzung, in Richtung mehr geschützte Flächen für den Fahrrad- und Fußverkehr, in Richtung Abschaffung und Reduktion von öffentlichen Parkplätzen und dergleichen. Einige Städte bauen sogar Stadtautobahnen zurück. Nehmen wir nur das Beispiel Utrecht, die eine innerstädtische Autobahn zurückverwandelt haben in eine Gracht. Übrigens auch aus Klimaanpassungsgründen, weil man natürlich viel mehr Entsiegelung braucht, um Extremwetterereignisse künftig managen zu können. In Paris gibt es etwas Ähnliches wie eine A100, die Périphérique. Dort wird eine Regelgeschwindigkeit von 50 Kilometern pro Stunde eingeführt. Wenn man sich mal ein bisschen umguckt in der Welt, ist man fast überall wesentlich weiter als in Berlin.

Die Reduzierung des Autoverkehrs ist ein hehres Ziel. Gleichzeitig hat die CDU die Berliner Abgeordnetenhauswahl nicht zuletzt deswegen gewonnen, weil sie sich als Vertreter der Autofahrer inszeniert hat.

Es gibt – kollektiv betrachtet – unterschiedliche Interessen zwischen den Berlinerinnen und Berlinern innerhalb des S-Bahn-Rings und denen, die in den Außenbezirken leben. Letztere haben eine wesentlich höhere Motorisierungsrate, eine schlechtere ÖPNV-Anbindung und oft wirklich Fahrradwege aus den 70er-Jahren, also 90 Zentimeter breit und durch Wurzeln beschädigt. Und die CDU hat es geschafft, die Außenbezirke zu mobilisieren, auch mit dem Risiko, in der Innenstadt nicht so viel zu gewinnen. Das kann man nachvollziehen. Die CDU hat ja dort ihren Rückhalt und ihre Mitglieder.

Was müssten progressive Kräfte machen, um dem etwas entgegenzusetzen?

Aus meiner Sicht ist die einzige Möglichkeit, die eigenen Positionen offensiv zu vertreten. Denn insgesamt wäre es für Berlin gut, wenn sich die Bedingungen für das Fahrrad verbessern, wenn der ÖPNV besser und zuverlässiger wird und wenn das Autofahren insgesamt etwas komplizierter und teurer wird. Wenn wir weniger Autoverkehr haben, ist das auch besser für diejenigen, die tatsächlich auf das Auto angewiesen sind. Das muss man klarmachen. Der Wirtschaftsverkehr, diejenigen, die gehbehindert sind und diejenigen, die tatsächlich keine wirkliche Alternative haben, profitieren davon, wenn diejenigen, die umsteigen könnten, das auch tun. Weniger Autos führen zu flüssigerem Verkehr und zu einfacherer Parkplatzsuche. Es gibt da durchaus eine Win-win-Situation, wenn man die Privilegien des privaten Autofahrens wieder zurückschraubt. Ich gebe zu, das ist nicht ganz einfach – wenn Privilegien da sind, möchte sie niemand gerne abgeben. Aber das muss man offensiv vertreten und sagen, dass es eine Menge Gewinner gibt, neben der ganzen Klimafrage. Eine solche Diskussion findet aber kaum statt. Aktuell ist das vor allem ein Abwehrkampf und Empörung darüber, was die CDU wieder für einen Mist macht.

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