Immer mehr Hochstapler*innen

Elf Sendungen sollt ihr sein! Ein Rückblick auf das Fernsehjahr 2022

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Sich und andere heiter bis wolkig betrügen: »Oh Hell«
Sich und andere heiter bis wolkig betrügen: »Oh Hell«

Das Feuilleton ist ständig auf der Suche nach Trends, auch und gerade im Fernsehen. Aber ob Telenovela, Dreiecksbeziehung, Dokudrama, Scripted Reality, Real Crime: die reine Häufung macht kein Genre modisch. Wer dieses Jahr vorm inneren Flatscreen sieht, erkennt allerdings so viele Serien ähnlicher Stoffe, dass es auch 2022 Tendenzen gab. Was war im Guten wie Schlechten wichtig?

Platz 11: »1899«, Netflix

Am Ende die Nr. 1 – zumindest in Sachen Budget. Mit dem Achtteiler um einen Dampfer, der im Bermuda-Dreieck zur Bühne eines düsteren Kostümfestes wird, hat das »Dark«-Autor*innen-Duo Jantje Friese und Baran bo Odar zwar die teuerste deutsche Serie gemacht, wie üblich im Boom-Metier Mystery, aber so viele Nebelkerzen gezündet, dass übersinnliche Effekthascherei unablässig aus jedem Bullauge quillt.

Platz 10: »Normalland«, ZDF-Mediathek

Mockumentary um ein fiktives Neustadt, durch das Regisseur und Autor Matthias Thönnissen sich und sechs andere Darsteller schickt, um Deutschlands Spießbürgerlichkeit zu verdichten. Fünf Viertelstunden hält uns die Realsatire aber nicht nur wahrhaftige Spiegel vor; sie verkörpert den Trend 2022, unsere Wirklichkeit kostengünstig zu übertreiben, um sie gleichsam abstrakt und ergreifend zu machen.

Platz 9: »Rottet die Bestien aus«, Arte

Dokus haben’s schwer im Sog fiktionaler Serien, weshalb sie sich besser bemerkbar machen. Der Fifa-Studie »Uncovered« gelang das mit Recherche, dem Terror-Rückblick »Die Schüsse von München« mit Aura. Und als Raoul Peck Rassismus oder Nationalismus autobiografisch unterfüttert mit der Geschichte des Kolonialismus verband, setzte er am Weg des Erfolgsmetiers Historytainment Meilensteine.

Platz 8: »The Old Man«, Disney+

Wie sehr sich die alternde Gesellschaft am Bildschirm versammelt, belegen ZDF-Vorabende voller Harndrangpillenreklame. Ein Mittel, das auch Jeff Bridges den Ruhestand erleichtert, bevor er als Ex-Agent dem CIA-Nachwuchs in der siebenteiligen Gewaltorgie zeigt, was Senioren draufhaben. Klingt bieder, ist aber auf so sinfonische Art modern, dass Robert Levine und Jonathan E. Steinberg Action neu definieren.

Platz 7: »Der Kaiser«, Sky

Wer Heilige verehrt, droht ihnen zu huldigen. Wie Tim Trageser, der dem windigen Beckenbauer Franz ein so devotes Biopic geschenkt hat, dass nur die karnevaleske Ausstattung peinlicher ist – und somit Historytainment von »Dahmer« (Netflix) über »Winning Time« (HBO) bis »Pam & Tommy« (Disney+) und »Gaslit« (Starzplay) noch sehenswerter macht, weil sie anders als »Der Kaiser« real statt museal wirken.

Platz 6: »Landkrimi: Vier«, ZDF

Es gibt Labels, die sind fast böswillig irreführend. Dass Marie Kreutzers Milieustudie »Vier« unter »Landkrimi« lief, hat das ORF-Drama um Ursache und Wirkung eines grausigen Leichenfundes nicht verdient. Die Darstellung dörflicher Verhaltensmuster ist so intensiv, dass sie sogar Matti Geschonnecks Rekapitulation faschistischer Verhaltensmuster der »Wannseekonferenz« an gleicher Stelle übertraf.

Platz 5: »Summer of Schlesinger«, RBB

Als Arte Mitte 2016 seinen »Summer of Scandals« feierte, war Patricia Schlesinger zwei Wochen RBB-Intendantin. 2022 feierte der Kulturkanal den »Summer of Passion«, und zwei Wochen später kollabierte ihr Feudalsystem so hingebungsvoll, dass es die Klima-, Kriegs- und Energiekrise tagelang auf hintere Schlagzeilenplätze verdrängte. Natürlich auch bei Bild TV– der schönsten Pleite des Jahres!

Platz 4: »Safe«, Neo

In der Ruhe liegt die Kraft – nach dem Grundsatz hat Kinoregisseurin Caroline Link ihr kinderpsychiatrisches Kammerspiel »Safe« nach eigenem Buch in aller Stille zum lautstarken Fanal für wahrhaftiges Fernsehen gemacht. Selten zuvor war Kommunikation ohne inszenatorischen Ballast auf schlichtere Art unterhaltsamer, was vier Heranwachsende im Cast acht Teile lang zur Höchstleistung animiert.

Platz 3: »The English«, Magenta TV

Seit mehr als 100 Jahren gibt es schon Western und so ganz weg war das, was einst »Cowboy und Indianer« hieß, ja nie. Aber »1883« (Paramount+) und besonders »The English« haben ihn neu definiert. Wie Hugo Blick Emily Blunts blutigen Weg als adlige Rächerin westwärts schildert, ist von der Bildsprache über die Darstellung Eingeborener bis hin zur Tiefenpsychologie fast schon revolutionär.

Platz 2: »Der Scheich«, Paramount+

Alle Welt will betrogen werden. Daher heißt der Fernsehtrend 2022: Hochstapler, die in Serien von »We Crashed« über »The Dropout« oder »Inventing Anna« bis »King of Stonks« das Kunststück schaffen, abstoßend und anziehend zu sein. Wobei Dani Levys Version nur letzteres war – schon, weil er den leibhaftigen Loser, der als falscher Scheich die Schweizer Oberschicht blendet, so spürbar liebt.

Platz 1: »Oh Hell«, Magenta TV

Der schönste Trend zum Schluss: Frauen dürfen auch seriell alles! Im Neo-Drama »Becoming Charlie« grandios (Lea Drinda) ihr Geschlecht variieren, im Netflix-Feuerwerk »Kleo« (grandioser: Jella Haase) alte Stasi-Genossen exekutieren, in der Magenta-Groteske »Oh Hell« (am grandiosesten: Mala Emde) sich und andere heiter bis wolkig betrügen. Auch Hochstapler gibt es nun mit -innen. Toll!

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