Die deutsche Vorstadt

Kehl am Rhein profitiert von der Nähe zu Strasbourg und erlebt gerade einen ungewöhnlichen Aufschwung

Im »Tabac de la Gare« ist einiges los. Gerade sind vier Dosen Winston-Tabak à 59,95 Euro über den Tresen gewandert. Nun ist eine ältere Dame dran, die Herz und Lunge an Filterzigaretten verloren hat, nach eigener Aussage zum ersten Mal hier ist und sich leicht irritiert umschaut. Die Stangen, die sich bis unter die Decke stapeln, sind mit gezackten Sternen in Orange, Grün und Gelb markiert und versprechen unschlagbare Preise. Es dauert nicht lange, bis Madame fündig geworden ist: »Passez une bonne après midi« (»einen schönen Nachmittag«), ruft ihr die Verkäuferin hinterher. »Merci et à bientôt« (»danke und bis bald«), antwortet die Dame. Und steuert zielsicher die kleine Kneipe auf der anderen Straßenseite an. Die heißt »Hanse« – und das ist nun wirklich ein komischer Name für eine Kneipe in Baden-Württemberg.

Es ist ein ganz normaler Tag in Kehl am Rhein. Die 37 000-Einwohner-Stadt, die bis 1953 formal zu Strasbourg gehörte, dürfte Deutschlands frankophonste Kommune sein. Jahrzehntelang fuhren die Deutschen ins Elsass, um sich mit Zigaretten einzudecken. Doch seitdem die französische Regierung das Rauchen bekämpft (und sich über die Steuern der Renitenten freut), wird verstärkt in Deutschland eingekauft. Zufall oder nicht: In ganz Frankreich ist die Zahl der Raucher rückläufig – außer in der Region Grand Est mit der Hauptstadt Strasbourg.

In der Tram-Linie D, die das Wohngebiet »Hautepierre/Poteries« im Westen Strasbourgs mit dem Kehler Rathaus verbindet, ist die Silvesternacht kaum noch ein Thema. 68 brennende Autos gab es in Strasbourg – ein deutlicher Abwärtstrend. Dafür wurden erstmals auch in Kehl Feuerwehrleute in einen Hinterhalt gelockt und attackiert. In den meisten Gesprächen in der Bahn geht es um die Besorgungen für die kommende Woche, auf Smartphones werden die Sonderangebote der Discounter auf beiden Seiten des Rheins verglichen. Noch auf der französischen Seite, kurz nach der Haltestelle Port du Rhin, schallt plötzlich eine blecherne Melodie, das unvermeidliche Badnerlied, aus den Boxen eines Smartphones, und eine Seniorenstimme spricht Wunderliches: »Basset uff, ihr Lidd, jetz simmer glich in Kehl in Deutschland.« In der vollbesetzten Tram, in der fast ausschließlich Französisch oder Arabisch gesprochen wird, wirkt das ein wenig deplatziert. Zumal die Szenerie nichts mit Klischeevorstellungen von einer Kleinstadt in Schwarzwaldnähe zu tun hat.

Kehl, so scherzt hier mancher, hat zwar nur einen kleinen Bahnhof. Aber dafür ein riesiges Bahnhofsviertel, nämlich die ganze Innenstadt. Und die wird Jahr für Jahr größer. Je mehr auch die Franzosen die Energiekrise spüren, je mehr sie auf den Euro achten müssen, desto attraktiver wird die Stadt an der deutschen Grenze. Weil Zigaretten und andere Tabakprodukte in Frankreich deutlich teurer sind als in Deutschland, pendeln Tag für Tag Hunderte, oft sogar Tausende Menschen über eine der drei Rheinbrücken nach Kehl.

Während des Lockdowns, als die Grenzen dicht waren, sank der Umsatz in den Kehler Tabakläden um bis zu 90 Prozent – ein zuverlässiger Indikator dafür, wie wichtig die Grenzlage für Kehl ist. »Ohne die Franzosen«, sagt eine Ladeninhaberin, die anonym bleiben will, »würden wir hier in drei Monaten zumachen müssen.« Sie mache sich im Übrigen schon länger nicht mehr die Mühe, die Leute danach zu fragen, ob sie auf Französisch oder auf Deutsch angesprochen werden wollen. »Drei Viertel sind eh Franzosen, und der Rest versteht zumindest das Nötigste.«

Dann geht die Tür auf, und die nächste Kundin betritt den Laden. »Meine Letzte …«, sagt die hochgewachsene Mittfünfzigerin auf Französisch und deutet die Kippe, die sie vor der Tür ausgetreten hat. Vorsätze fürs neue Jahr deutet sie damit nicht an. Höchstens den, sich von ihrem Stammhändler in der Strasbourger Altstadt abzuwenden. »Ich war noch nie in Deutschland«, lacht sie. »Wer hätte gedacht, dass ich beim ersten Mal mit der Straßenbahn hinreise?«

Das Nikotin ist nicht der einzige Grund für den großen Grenzverkehr zwischen Baden und dem Elsass: Das Rauchen von Shisha-Pfeifen ist in Frankreich in der Öffentlichkeit streng reguliert und de facto so gut wie unmöglich. Glücksspiel an Automaten ist sogar ganz verboten. Das ist der Grund, warum in Kehl neben Tabakläden Spielhallen und Shisha-Bars die Straßen säumen. Auch Drogeriemärkte und Billig-Discounter sind überrepräsentiert. In einem Radius von 300 Metern um den Bahnhof gibt es fast drei Dutzend Spielhallen, Shisha-Bars und Tabakläden – und ansonsten so gut wie nichts. Las Vegas ist auch nicht überall glamourös, doch Kehl ist es nirgendwo.

Touristisch gesehen war die Rheinbrücke zwischen Kehl und Straßburg in den vergangenen 150 Jahren immer schon eine Einbahnstraße. Kehl wurde 1870 im deutsch-französischen Krieg völlig zerstört. Noch heute wirbt das Städtemarketing realistischerweise fast ausschließlich mit der Nähe zu Strasbourg.

Mit einem »Bureau de Tabac«, wie es sie heute noch heute in jeder Kleinstadt vom Pas de Calais im Norden Frankreichs bis runter in den Roussillon an der Grenze zu Spanien gibt, haben die Läden hier allerdings nur den Namen gemein. Ein richtiges »Bureau de Tabac« mit der charakteristischen, hell erleuchteten roten Zigarre überm Schaufenster ist nicht nur fester Bestandteil der morgendlichen Einkaufsrunde. Es ist in Frankreich eine soziale Institution, das Begegnungszentrum schlechthin im Ort – weshalb er vielerorts auch Teil eines Bistro- oder Kneipenbetriebs ist. Und ja, tatsächlich gehört für manche in Frankreich zumindest am Wochenende noch die Zeitungslektüre dazu. Zumindest die Lokalzeitung und dazu »Le Monde« oder »Libération« oder »Le Figaro« hat dann auch fast jeder »Tabac/Presse« jenseits des Rheins noch auf Lager.

Hier in Kehl ist das anders. Der Niedergang der Printmedien wird auch augenfällig, wenn es im »Tabac/Presse« in der Hauptstraße kein einziges Presseerzeugnis mehr gibt. Und das ist nicht das Einzige, was früher besser war, findet so mancher in Kehl. »Nur noch Döner, Spielhallen und Ramschläden« sehe er in der Innenstadt, sagt ein älterer Herr, der ein Stück Streuselkuchen in »Peter’s Backstube« unweit des Rathauses isst. Kehl hat in den letzten Jahrzehnten das Schicksal vieler Klein- und Mittelstädte ereilt: Alteingesessene Geschäfte mussten schließen, und diejenigen, die neu aufmachen, wenden sich eher nicht an eine finanzkräftige Klientel. Auch der parteilose Bürgermeister Wolfram Britz, ein gelernter Krankenpfleger mit geschultem Blick für die Realität, beklagt das zuweilen: »Bei der Vermietung der Ladengeschäfte sind uns die Hände gebunden.« Immerhin gibt es hier aber noch Geschäfte. Leerstand, wie er in manch anderer Grenzstadt zum Alltag gehört, wäre schließlich auch nicht attraktiver.

Überhaupt hat Kehl in vielerlei Hinsicht das Beste aus seiner Situation gemacht: Da Strasbourg sein Los als blühende Touristenmetropole mit dem harten Los der Gentrifizierung bezahlt, sind in den vergangenen Jahren immer mehr Menschen über den Rhein ins günstigere Kehl gezogen. Wer sich ein paar Tage in beiden Städten aufhält, findet es schon nach wenigen Stunden völlig normal, in Strasbourg immer wieder Deutsch zu hören. In der Kehler Fußgängerzone ist Französisch sowieso längst die dominierende Sprache. Je näher man dem nördlichen Ende und damit dem Bahnhof mit der 2018 eingeweihten Tram-Verbindung über den Rhein kommt, desto mehr. Kein Wunder also, dass die Geschäfte ihre Werbeschilder primär auf Französisch beschriften. Und selbstverständlich sind auch auf der anderen Rheinseite alle Speisekarten zweisprachig. Hier in der Grenzregion brauchte es keine Gaskrise, um zusammenzurücken.

Für ungeübte Ohren klingt der elsässische Dialekt sowieso fast so wie der in Baden. Die Fußgängerzone heißt in Strasbourg »Longstross«, die Nationalgerichte »Flammekueche« oder »Baeckeofe«, und Weihnachten gibt es »Bredele«, Plätzchen. Doch die Ähnlichkeiten innerhalb der alemannischen Sprachfamilie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Elsass über Jahrhunderte immer wieder Zankapfel zwischen Frankreich und Deutschland war. »Bsìnnsch di? mìr han làng brüücht fer Kàmàràd wara«, heißt es in einem elsässischen Lied in der Original-Mundart, die vor allem auf dem Land zuweilen noch gesprochen wird: »Erinnerst du dich? Wir haben lange gebraucht, um Freunde zu werden.«

Freundschaft hin oder her – zumindest der Grenzverkehr zwischen Baden (beziehungsweise weiter nördlich der Pfalz und dem Saarland) und dem Elsass ist gelebte Tradition. Wer guten Käse und frischen Meeresfisch will, sucht den traditionell jenseits des Rheins auf französischer Seite. Noch heute sind die Löhne in Deutschland höher, dementsprechend viele Menschen aus dem Elsass arbeiten diesseits des Rheins. Die Wohnungen sind hingegen in Frankreich günstiger, weshalb viele Deutsche jenseits des Rheins wohnen. In den vergangenen Dekaden war nicht selten der Preisvergleich der Vektor für die Reiserichtung.

Im vergangenen Winter sind die Deutschen nach Frankreich tanken gefahren – zur nicht immer ungeteilten Freude der Einheimischen, die zeitweise 30 deutsche Kennzeichen vor sich hatten, ehe sie an die Reihe kamen. Und von Basel bis Wörth gibt es rheinaufwärts kaum ein Frei- oder Thermalbad, in dem nicht jedes dritte Gespräch auf Französisch geführt würde. Eitel Sonnenschein bedeutet das nicht immer: Die Art und Weise, wie manche Strasbourger Kids aus der Banlieue sich in badischen Kleinstadt-Schwimmbädern amüsieren, erregt dort zuweilen Aufsehen. Und die deutschen Gutverdiener, die auf der Suche nach günstigen Immobilien durch die Dörfer streifen, sind ebenfalls kein Beitrag zur deutsch-französischen Freundschaft.

Wobei auch gemeinsame Probleme zusammenschweißen können, die Erfahrung machen sie gerade auf beiden Seiten des Rheins. Wolfram Britz und Jeanne Barseghian haben einen gemeinsamen Brief an Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geschrieben. Die grüne Bürgermeisterin von Strasbourg und ihr Kehler Amtskollege sehen die in Berlin geplante Freigabe von Cannabis kritisch. Nicht grundsätzlich, beide sind für eine liberale Drogenpolitik. Aber in der konkreten Umsetzung für ihre beiden Städte. Ohne die Einrichtung eines Grenzsperrbezirks, der das Betreiben von Coffeeshops in unmittelbarer Grenznähe unmöglich machen würde, fürchten beide, dass Kehl schon bald der größte THC-Dealer Strasbourgs wäre. Und – liberale Drogenpolitik hin oder her – dass im ländlich geprägten Elsass bislang deutlich weniger gekifft wird als im Rest der Grande Nation, kann nach Ansicht der beiden Stadtoberhäupter ruhig so bleiben.

Eine andere Möglichkeit als Hilfe aus Berlin sehen beide nicht. Die Forderung nach strengeren Grenzkontrollen sei absurd, sagen sie unisono. Kehl und Strasbourg hätten lange daran gearbeitet, den Austausch zwischen den Grenzstädten zu erleichtern. Das werde man nun bestimmt nicht wieder rückgängig machen.

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