Erkranken, versterben, verwesen

Gedanken über den Tod und das Nichts

  • Franz Schandl
  • Lesedauer: 8 Min.
»Die vier apokalyptischen Reiter« des russischen Malers Viktor Michailowitsch Wasnezow (1887): Krieg, Krankheit, Seuchen, Hungertod
»Die vier apokalyptischen Reiter« des russischen Malers Viktor Michailowitsch Wasnezow (1887): Krieg, Krankheit, Seuchen, Hungertod

Boten des Sterbens im Leben sind unsere Erkrankungen. Insbesondere die von diesen verursachten Schmerzen und Beeinträchtigungen lassen an unserer Zukunft zweifeln. Krankheit demonstriert, dass nicht selbstverständlich ist, was selbstverständlich erscheint, solange man gesund ist. Krankheit ist ein zarter oder rüder, auf jeden Fall dezidierter Verweis auf Fragilität und Schwäche des Leibs und seiner Organe, eine schlechte Erfahrung mit dem Körper.

Krankheiten hinterlassen, selbst wenn wir sie überwinden, oft Narben physischer und psychischer Natur. Auch wenn sie nicht chronisch werden: Da ist nichts mehr wie vorher. Wir sind zwar nicht gestorben, aber wir hätten vielleicht sterben können. Krankheiten sind negative Erfahrungen, weil Erfahrungen der Negation der körperlichen Integrität; sie lassen uns auch aufgrund der Anstrengung, sie zu überwinden, verblühen. Sie beschleunigen unser Altern ungemein. Symptomatische Gebrechen beschädigen das Leben. So stellt sich auch die berechtigte Frage, ob man nach einer gröberen Attacke überhaupt noch gesund werden kann oder bloß als saniert gelten muss.

Gesund-werden-Wollen erfordert zwar Identifizierung der, aber nicht Identifikation mit der Krankheit, sondern vielmehr Desidentifaktion mit dem Erreger, dem Tumor etc. Ich oder sie, das ist hier die Frage. Das Knifflige daran ist freilich, dass hier ein Ich und ein Auch-Ich zu trennen sind. Es will mir fremd oder besser: zuwider sein, aber es ist mir eigen. Ein Widerspruch besteht darin, Krankheiten als Äußeres zu begreifen, wo sie doch nicht bloß im Inneren, sondern als ein Inneres lodern, ja wüten, in einem sitzen und schmerzen. Jede Erkrankung ist stets auch eine Kränkung der Person durch den Körper: Ich bin mir da zum Feind geworden.

Aber was ist, wenn Krankheit und Leiden sich nicht entsprechen? Ist man krank, wenn man sich so fühlt, aber es gar nicht ist? Und: Ist man krank, wenn man seine Krankheit nicht spürt, sich gar nicht krank fühlt? Krankheit und Erkrankung fallen nicht immer in eins. Krankheit ist real, auch wenn sie noch nicht als Erkrankung ausgebrochen ist. Krankheit betont mehr die objektive Seite, den Befund; Erkrankung mehr die subjektive Sicht, die Befindlichkeit. Keine Erkrankung ohne Beschwerden.

Gesund meint, dass ein Körper wohlbefunden dem Geist wohlgesonnen ist, ihn trägt und stützt. Es geht um die Harmonie eines ganzen Menschen. Gesundheit ist ein Zustand, der nicht auffällt, wenn er zugegen ist, aber abgeht, wenn er abhandengekommen ist. In der Krankheit spürt man zwar, dass etwas nicht stimmt, man weiß aber, dass man lebt, das heißt, nicht tot ist, aber tot werden könnte. Krankheiten lassen ahnen, dass das Dasein ein Ende finden wird. Erkrankungen sind Niederlagen; das Sterben selbst ist dann die ultimative Niederlage, die finale Kapitulation sui generis. Der Tod jedoch ist, so paradox das scheinen mag, weder Niederlage noch Kapitulation. Er ist, weil er nicht ist, auch jenseits davon.

In den seltensten Fällen stirbt man an Krankheiten, im Gegenteil, man übersteht und meistert sie. Die allermeisten Erkrankungen sind akut und vorübergehend, heilbar oft ohne Therapie. Der Störung folgt keine Zerstörung.

Gesundheit bedeutet, dass der Körper des Menschen Freund ist. Das Körperliche ist entweder selbstverständlich oder feindlich. Erst im Kontrast wird es wirklich spürbar. »Und dann kam eine von diesen Krankheiten, die darauf ausgingen, mir zu beweisen, dass dies nicht das erste eigene Erlebnis war. Das Fieber wühlte in mir und holte von ganz unten Erfahrungen, Bilder, Tatsachen heraus, von denen ich nicht gewusst hatte; ich lag da, überhäuft mit mir, und wartete auf den Augenblick, da mir befohlen würde, dies alles wieder in mich hineinzuschichten, ordentlich, der Reihe nach. Ich begann, aber es wuchs mir unter den Händen, es sträubte sich, es war viel zu viel. Dann packte mich die Wut, und ich warf alles in Haufen in mich hinein und presste es zusammen; aber ich ging nicht wieder darüber zu. Und da schrie ich, halb offen wie ich war, schrie ich und schrie.« Der Zweifel gerät hier bei Rainer Maria Rilke zu schierer Verzweiflung.

»Der Schmerz ist der Tod im Kleinen, der Tod der Schmerz im Großen«, sagt Martin Heidegger und wird zustimmend von Byung-Chul Han zitiert. In fast klassischer Manier versteht auch Han es nicht, den Tod und das Sterben auseinanderzuhalten. So wird obiger Satz falsch. Im Tod schmerzt nichts mehr, und wie der Orgasmus ist auch der Schmerz kein kleiner Tod gewesen. Der Schmerz verweist nur auf den Tod, aber das auch nicht ultimativ, sondern selektiv. Schmerzen kann man loswerden, den Tod letztlich nicht. Mehr als Verzögern ist nicht.

Der Tod jedenfalls kennt im Gegensatz zum Sterben keinen Schmerz. Der Tod ist völlig schmerzbefreit. Mit gar nichts gehört der Tod zusammen. Nichts ist so unempfindlich wie das Nichts. Krankheit ist Teil des Lebens, sie hat keinen Bestand über den Tod hinaus. Der Tod erlöst von jeder Krankheit. Und zwar endgültig. Niemand leidet da weiter. Das ist mitunter auch ein seriöser Grund, in großer Not den Tod zu suchen. Daran ist nichts Verwerfliches. Schon Montaigne, der an Nierensteinen litt, schrieb: »Der Sprung aus dem Kranksein ins Nichtsein fällt uns somit leichter denn der aus dem blühenden Wohlsein in qualvolles Kranksein.«

Ob modernes Leiden und Sterben um vieles erträglicher geworden sind, müsste gesondert debattiert werden. Zweifel an der Rationalität der modernen Medizin, die derlei verkündet, sind erlaubt und geboten. Oft entsteht die Tortur ja erst durch die Therapie. Krankheiten werden nicht nur geheilt und verkürzt, sie werden auch aktiviert und verlängert, vor allem aber werden sie bewirtschaftet.

Krankheiten machen oft seltsame Karrieren. Das unwillkommene Eindringen in den Leib ist Usus, das Anhängen an Geräte ebenso. Gewalt und Übergriff lassen grüßen. Die Integrität des Körpers wird praktisch sistiert. Ohne Anästhesie wären Untersuchungszimmer und Operationssäle von Folterkammern kaum zu unterscheiden. Auch die Instrumente nicht. Werkzeuge und Geräte wirken geradezu beängstigend. Vom Überwachungspersonal ganz zu schweigen. Vor allem sind all diese Errungenschaften nicht autonom von der Gesundheitsökonomie genannten Verwertung zu betrachten. Medizin ist ein subordinierter Teil eines industriellen Komplexes. Ihr Ziel besteht weniger darin, Menschen zu heilen, als Patienten zu rekrutieren.

Natürlich ist der Tod natürlich, aber das Sterben wird zusehends sozialisiert. Da wird in Serie gestorben, wie soll es auch anders sein in einem palliativen Dienstleistungsgewerbe? Abgänge gestalten sich wenig individuell. Die Integrität der Person ist eine fahle Projektion in der modernen Dämmerung der Apparaturen. Sterben wird institutionalisiert, medikalisiert, ökonomisiert.

Die Bedeutung des Todes liegt darin, dass das Leben keine Bedeutung mehr hat, ja für den Toten nicht einmal mehr hatte. Der Tod beseitigt nicht nur jede Zukunft des Toten, er beseitigt in gewisser Hinsicht auch die Vergangenheit. Somit auch alle Gegenwart, die je gewesen ist. Der Tote ist nicht! Der Tod ist als Austritt aus allen Gegenwarten zu verstehen. Der Tod ist ein Moment, das Leben ist eine Dauer. Der Tod trifft uns nur ein Mal. »Das Sterben muss jedes Dasein jeweilig selbst auf sich nehmen. Der Tod ist, sofern er ›ist‹, wesensmäßig je der meine.« So richtig der erste Satz Heideggers, so falsch ist der zweite. Der Tod, das betonte schon Günther Anders gegen Martin Heidegger, verträgt nicht das Possessivpronomen »mein«. »Mein« ist da gar nichts.

Ist Tod gleich Tod? Ja! Ist Sterben gleich Sterben? Nein! Alles Sterben ist verschieden, doch alle Tode sind gleich. Als Nichts unterscheidet sich keiner von einem anderen. So paradox es klingen mag: Der »eigene« Tod hat mit dem eigenen Leben nichts, absolut nichts zu tun. Er ist völlig abwesend, denn sobald er faktisch eintritt, ist es mit dem Leben vorbei. Vorher jedoch ist er nicht da gewesen. Der Tod ist auch im Sterben nicht zugegen, sondern dagegen. Zumindest als Perspektive, die man zwar hat, die aber keine mehr ist.

So ist der Tod schon ein seltsames Phantom. Im Leben stets abwesend, ist doch sein Erscheinen permanent möglich. Eigen ist nur das Leben, der Tod ist nicht eigen, er ist ganz allgemein. Tod bedeutet Sozialisierung ins Nichts. Der Tod kennt keine Varianz. Kein Toter hat seinen Tod. Der Tod ist nicht zu haben, meiner schon gar nicht. Wenn der Tod kommt, dann weder als fremder noch als eigener. Am Tod erfahren wir jedenfalls weder Besitz noch Besitzwechsel. Etwas wie meinen Tod gibt es nicht, der Tod ist nicht mein, also spezifisch, sondern allgemein, also unspezifisch.

Das Sterben mag sich ziehen, aber der Tod ist plötzlich. Vom Resultat her betrachtet meint Sterben Entsubstanzialisierung. Im Sterben sagt das Leben Nein zum Leben. Auch der körperliche Verfall ist kein Verwesen, ja nicht einmal das Sterben. Alles Leben ist nicht tot und alles Tote ist nicht am Leben. Verwesen nennt sich dann das, was dem Leichnam danach geschieht. Das Verwesen ist bloß die Zersetzung des körperlichen Rests. Der Begriff ist etwas unscharf, da er unterstellt, dass die Wesenslosigkeit allmählich parallel zum körperlichen Verfall eintritt, nicht also schon mit dem Tod vorliegt. Doch das tut sie. Bevor der Körper verwest, ist man bereits entwest. Das besagte Verwesen des Körpers setzt erst nach dem Ende des Wesens ein.

Verwesendes Fleisch hat schon eine Lebendigkeit, aber es ist nicht mehr die Lebendigkeit seines ehemaligen Trägers. Seinen Vorgänger betreffend ist der Leichnam lebloser Stoff. Der Prozess des Verfaulens ist kein Leben, geschweige denn ein Erlebnis. Es stinkt. Indes, so rieche ich nicht. Es ist eine sinnliche Täuschung. Durch den Tod hat der Körper sich von uns distanziert und verabschiedet. Nicht ich verfaule, sondern es verwest.

Was da verwest, das bin ich nicht. Das Gewese hat dem Leben durch den Tod bloß den Körper als Leiche enteignet. Was ich gewesen bin, kann nicht verfaulen. Was schert der Leichnam? Der Körper, der sich meiner entledigt hat, hat nichts anderes verdient, als Rest und Abfall, Staub und Asche zu werden. Verwesen meint den Transformationsprozess eines Kadavers. Mit seinem ehemaligen Träger hat dieser nichts zu tun. Niemand ist seine Leiche.

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