Das Doha in der Pampa

Im südlichen Argentinien wurden große Öl- und Gasvorkommen entdeckt – und Energiekonzerne stehen Schlange

  • Malte Seiwerth, Añelo
  • Lesedauer: 9 Min.
Der Geograf Javier Grosso wirft der Regierung vor, die Gefahren kleinzureden.
Der Geograf Javier Grosso wirft der Regierung vor, die Gefahren kleinzureden.

Schwere Lastwagen rumpeln über die geschotterten Straßen, Staub wirbelt auf, halbfertige Häuser stehen am Straßenrand. Keine Gehsteige, keine Straßenlaternen und weit und breit keine Bäume. Es ist heiß und trocken in Añelo, dem »Doha von Südamerika«, wie die Bewohner*innen ironisch sagen. Am Rande des Ortes stehen riesige Industrieanlagen. Es leuchten die Logos internationaler Öl- und Gaskonzerne, und von einem Plakat des halbstaatlichen Konzerns YPF blickt Lionel Messi mit dem Slogan »Eine weltweit einzigartige Energie« auf die vorbeifahrenden Autos.

Die argentinische Regierung setzt große Hoffnungen auf das Fracking in Añelo und weiteren Orten über der Schiefergesteinsformation Vaca Muerta im Süden des Landes: Mit Öl- und Gasexporten nach Europa soll die Wirtschaftskrise, in der sich Argentinien seit Jahren befindet, bald ein Ende finden. Für die lokale Bevölkerung hingegen wird die Krise nur noch größer. Der politische und wirtschaftliche Druck nach immer weiteren Bohranlagen hat ihr Leben unwiderruflich verändert. Sie klagen über soziale Probleme, Umweltverschmutzung, regelmäßige Erdbeben – und fühlen sich damit alleingelassen.

Immer weniger Wasser

Die ersten Bewohner*innen der Gegend waren indigene Mapuche, die im späten 19. Jahrhundert hierher vertrieben wurden, nachdem der argentinische Staat die fruchtbaren Gebiete Siedler*innen aus Europa übergeben hatte. So auch die Vorfahren von Lorena Piñén und Mabel Campos. Bis vor wenigen Jahrzehnten interessierte sich niemand für ihr Land. »Doch dann kam der Ölboom«, erzählt Piñén, während sie am Küchentisch sitzt und Mate trinkt. Man hört die Schafe und Ziegen der Familie. In den Weiten der argentinischen Pampa wird vor allem Viehzucht betrieben.

In vielen Fällen begannen die Unternehmen zu bohren, ohne die Eigentümer*innen des Bodens zu fragen – die Behörden behaupteten einfach, das Land gehöre ihnen. Viele Gemeinschaften geraten deshalb in Konflikt mit dem Staat und Unternehmen. »Wir mussten für unser Land kämpfen«, erzählt Piñén und erinnert an Straßenbesetzungen und Protestcamps.

Vor sechs Jahren schließlich, kurz nachdem die Bohrungen begonnen hatten, erkannte der Staat das Land als Eigentum der Gemeinschaft von Maripé an. »Damals dachten wir«, so Piñén, »das Schlimmste sei überstanden.« Was aber noch alles auf sie zukommen würde, ahnten sie da noch nicht. Seit 2017, als die Gemeinschaft von Maripé ihr Land überschrieben bekam, hat sich die Bevölkerung vom benachbarten Añelo auf 8000 Einwohner*innen vervierfacht. Die Rohstoffe zogen Menschen auf der Suche nach Arbeit an. »Wir wurden überrumpelt«, sagt Piñen. Das Fracking verscheuche ihre Tiere, und das Wasser werde immer knapper, sodass die durstigen Tiere an trockenen Tagen zur Wasserleitung der Frackingunternehmen gingen. »Sie stießen ihre Hörner gegen das Metall«, erinnert sich Campos.

Tag für Tag bohren riesige Maschinen kilometerweit in die Tiefe und später in die Breite. Ist die gesuchte Gesteinsformation erreicht, pressen Pumpen eine Mischung aus Wasser, Quarzsand und Chemikalien in die Erde, um das poröse Schiefergestein zu zerstören und so das Gas und Öl freizusetzen.

Bis zu 120 Millionen Liter werden pro Bohrloch verbraucht – Wasser, das auch aus den Bewässerungskanälen der Gemeinschaft Maripé fließt. Es macht ihnen Angst. Noch mehr, seit sie durch Familienmitglieder, die in Unternehmen arbeiten, hörten, wie gefährlich die Stoffe seien, sagt Piñen. Eine Vergiftung des Grundwassers sei nicht auszuschließen.

Die Behörden, die für die Kontrolle zuständig wären, sind mit dem Energieboom heillos überfordert. »Wegen der wachsenden Bevölkerung musste die Gemeinde schon ab 2011 neu geplant werden«, erklärt Milton Morales, der Bürgermeister von Añelo. »Dazu haben wir einen Masterplan entworfen, der die Entwicklung bis 2035 begleiten soll, Wasserleitungen sind geplant, neue Wohnviertel ausgewiesen und zwei Industrieparks entworfen.« Doch ob für Wasseraufbereitungsanlagen, Gesundheitseinrichtungen oder Schulen: Überall fehlt es an Geld. Dafür verantwortlich, so Morales, sei die Provinzregierung.

»In Añelo verschärfen sich alle Probleme, die der Kapitalismus mit sich bringt«, meint derweil Daniel Alvaréz, der Vizedirektor einer Grundschule. Er sitzt am Hauptplatz des Ortes, während seine Schüler*innen auf dem einzigen Kinderspielplatz weit und breit toben. Er selbst arbeitet seit acht Jahren in Añelo, doch hier wohnen will er nicht.

Er reist täglich aus der zwei Stunden entfernten Provinzhauptstadt Neuquén an. Auch die Arbeit als Lehrer sei schwieriger geworden. Ständig kämen neue Schüler*innen hinzu. »Die Menschen glauben, hier schnelles Geld machen zu können. Doch der Sektor braucht qualifiziertes Personal. Viele ziehen nach wenigen Monaten enttäuscht wieder weg.« Das führe zu einer hohen Fluktuation bei den Schulkindern.

Gespaltene Wände

In Sauzal Bonito, eine Autostunde entfernt, scheint die Zeit derweil stehen geblieben zu sein. Eine kleine Schule ziert den Dorfeingang. Hier ist der Rohstoffboom noch nicht angekommen, die meisten Menschen leben noch immer von der Viehzucht. Doch etwas ist auch hier anders geworden: Seit fünf Jahren bebt immer wieder die Erde.

Anfangs hätte kaum jemand geglaubt, dass das mit dem Fracking zusammenhängen könnte, erzählt die 66-jährige Noemi Painevil mit heiserer Stimme: »Erst als in der Pandemie die Maschinen stillstanden und es nicht mehr bebte, wurde den Leuten bewusst, dass ich recht hatte.« Carlos Peréz, ihr Mann, der jahrzehntelang in der Erdölindustrie arbeitete, fügt hinzu: »Ich kenne die Technik und weiß, mit wie viel Kraft in den Boden gebohrt und gesprengt wird.« In der Wand hinter ihm ist ein Spalt zu sehen, der von der Decke bis fast zum Boden führt.

Eigentlich hatten sie es sich hier nach Peréz Pensionierung gemütlich machen wollen. Doch seit den Beben, so Painevil, schlafe sie nicht mehr gut: »Ich wache immer wieder auf und habe Angst.« Da die Häuser nicht erdbebensicher gebaut sind, könnten sie jederzeit einstürzen – so wie das einer Nachbarin, die seither in einem von der Regierung zur Verfügung gestellten Wohnwagen lebt.

»Überall, wo Fracking betrieben wird, gibt es durch den enormen Druck beim Aufbrechen der unteren Steinschichten Erdbeben«, erklärt der Geograf Javier Grosso, der an der Universidad Nacional del Comahue arbeitet und die Dorfbewohner*innen begleitet. Doch die Regierung und die beteiligten Unternehmen würden das Problem kleinreden: »Vor kurzem hat die Provinzregierung mit dem Nationalen Zentrum für Erdbebenprävention Verträge für eine engere Zusammenarbeit unterschrieben – gleichzeitig aber auch die Geheimhaltung wichtiger Dokumente vereinbart.« Auch bezüglich der Wasserqualität würden Daten geheim gehalten. »Niemand weiß, ob die Chemikalien in die Grundwasserschichten gelangen.«

In der Provinzhauptstadt Neuquén, gut zwei Autostunden südwestlich, ist man von alldem weit entfernt. Hohe Türme und glitzernde Fassaden schmücken die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz mit dem zweithöchsten Pro-Kopf-Einkommen Argentiniens. 75 Prozent der lokalen Wirtschaftskraft macht laut offiziellen Zahlen die Öl- und Gasindustrie aus; 85 Prozent aller Exporte sind fossile Brennstoffe.

Alejandro Monteiro, der Energieminister der Provinz, sitzt in seinem Büro im zwölften Stock des Ministeriums. Seit 1962 hat seine Partei, die Movimiento Popular Neuquino, alle Wahlen der Provinz gewonnen. Monteiro, der als Vertreter der Regierung auch im Vorstand von YPF sitzt, spricht von einer rosigen Zukunft. Unter den Böden der Provinz befände sich das zweitgrößte Gasfeld der Welt. »Dank der Investitionen aus dem Ausland, den Exporten und der besseren Selbstversorgung mit fossilen Brennstoffen kann hier die argentinische Wirtschaftskrise gelöst werden.« Begeistert erzählt er vom Bau einer Gaspipeline nach Buenos Aires, »gleichzeitig reaktivieren wir die Öl- und Gasleitungen nach Chile, Brasilien und Bolivien.« Bald schon könne man fossile Brennstoffe per Schiff nach Europa exportieren.

Doch bis dahin wird es noch dauern – obwohl die argentinische Regierung von einem Fass ohne Boden spricht, lag Argentiniens Anteil am internationalen Gasmarkt im Jahr 2021 gerade einmal bei einem Prozent. Davon kam der größte Teil aus Neuquén. Bislang importiert Argentinien noch mehr Gas, als es exportiert. Hauptabnehmer der Exporte ist das benachbarte Chile.

Die Kritik an der Rohstoffförderung und die Beeinträchtigungen der Anwohner*innen lässt Monteiro nicht an sich heran. Darüber, ob die Erdbeben vom Fracking herrührten, gebe es bis heute keine wissenschaftliche Klarheit, sagt er. Sicher hingegen sei, dass das Fracking zu keinen größeren Umweltschäden führe. Angesprochen auf die sozialen Probleme verweist er auf den Bau von erdbebensicheren Häusern in Sauzal Bonito und die Erstellung zusätzlicher Infrastrukturen in Añelo. Dass es dabei immer wieder an Geld fehle und zu Verzögerungen komme, liege an der Zentralregierung. Auch damit, die Eigentumsrechte im Fall der indigenen Ländereien in Ordnung zu bringen, habe die nationale Behörde erst 2021 begonnen.

Interesse aus Deutschland

Schon jetzt stehen internationale Konzerne Schlange, um Förderrechte zu bekommen. Monteiro zeigt eine Karte, auf der alle vergebenen Rechte aufgezeichnet sind. Neben den Namen einheimischer Konzerne wie YPF oder Gaspetrol sind jene von Total, Shell oder Chevron zu lesen.

Auch Deutschland ist an den Gasvorkommen interessiert. Beim Staatsbesuch von Bundeskanzler Olaf Scholz im Januar 2023 traf sich die Delegation mit Vertreter*innen verschiedener argentinischer Gasproduzenten, unter anderem die halbstaatliche YPF und Tecpetrol. Von den Konzernleitungen hieß es, man habe über kommende Möglichkeiten von Flüssiggasexporten nach Deutschland gesprochen.

Kurz nach dem Staatsbesuch verkündete die deutsche Wintershall DEA, zusätzlich eine halbe Milliarde Dollar in Vaca Muerta zu investieren. Nachdem sich das Unternehmen aus dem Russlandgeschäft zurückziehen musste, sei Argentinien eines der wichtigsten Geschäftsfelder, so die Geschäftsführung bei einer Pressekonferenz. Bislang förderte die Wintershall DEA vor allem Gas aus konventionellen Quellen und hatte sich kaum am Frackingboom beteiligt. »Der Krieg in der Ukraine hat uns alle geprägt« und somit die Ausgangslage verändert, so das Unternehmen gegenüber der lokalen Presse.

Derweil werden die sozialen Probleme in Añelo durch den fehlenden Wohnraum und die eklatante soziale Ungleichheit immer größer. So habe sich mit den hohen Einkommen im Öl- und Gassektor auch der Drogenkonsum breitgemacht, sagt die Wirtschaftsprofessorin Adriana Giuliani von der Universidad Nacional del Comahue: »Uns kümmert insbesondere der stark zunehmende Menschenhandel von Frauen und Mädchen für die Prostitution.«

In Sauzal Bonito hofft die 66-jährige Painevil weiter, dass die Beben endlich einmal aufhören – »oder dass sich die Behörden wenigstens um unsere Probleme kümmern«. Doch von den versprochenen 44 neuen Häusern für ihr Dorf sind erst sechs fertiggestellt worden: kleine Holzhütten mit engen Zimmern. Kein Vergleich zu dem Haus, das Painevil und Peréz auf ihrem Grundstück gebaut haben.

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