• Politik
  • Rentenreform in Frankreich

Misstrauensantrag nur knapp gescheitert

Für Gewerkschaften und Linke geht der Widerstand gegen die Politik der Regierung weiter

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Nur neun Stimmen fehlten Montagabend in der Nationalversammlung zum Sturz der Regierung. Der liberale Zentrumspolitiker Charles de Courson hatte einen parteienübergreifenden Misstrauensantrag eingebracht, für den geschlossen sowohl das linke Parteienbündnis Nupes als auch der rechtsextreme Rassemblement National votiert haben sowie – trotz Weisungen ihrer Parteiführung – sogar ein Drittel der Abgeordneten der rechtsbürgerlichen Republikaner, zusammen insgesamt 278 Stimmen. Für den Sturz der Regierung wären aber 287 nötig gewesen.

Da Premierministerin Elisabeth Borne am vergangenen Freitag aus Furcht vor einer Abstimmungsniederlage über die höchst umstrittene Rentenreform auf den Artikel 49.3 zurückgegriffen und das Gesetz mit der Vertrauensfrage verbunden hat, gilt es jetzt auch ohne Votum als angenommen. Die linke Opposition will jedoch den Verfassungsrat anrufen und verlangt eine Prüfung des Gesetzes, weil es ihrer Überzeugung nach mit demokratisch fragwürdigen Mitteln durchs Parlament gepresst wurde. Bis dahin kann das Gesetz nicht in Kraft gesetzt werden.

Außerdem will das Linksbündnis Nupes die Regierung zu einem Referendum über das Gesetz zwingen, mehr als zwei Drittel der Franzosen lehnen die Rentenreform ab. Dafür müssten sich 4,7 Millionen wahlberechtigte Bürger für ein Referendum aussprechen; innerhalb weniger Tagen wurden bereits 50 000 Stimmen im Internet abgegeben. Zu den ersten Unterzeichnern gehörten der Nationalsekretär der FKP, Fabien Roussel, der Parteivorsitzende der Sozialisten, Olivier Faure, und der Schriftsteller Erik Orsenna.

Zur Begründung des von ihm zusammen mit anderen Abgeordneten eingebrachten Misstrauensantrags sagte Charles de Courson in der Parlamentsdebatte: »Wir sind der Überzeugung, dass die Rentenreform das Solidarprinzip der Nation verletzt und sozial ungerecht ist.« Die Art, wie das Gesetz den Parlamentariern mit Verfahrenstricks und unter Zeitdruck vorgelegt und ohne gründliche Debatte und zum Teil sogar ohne Votum behandelt werden musste, sei eine »Schande für die Demokratie«, so de Courson. »Die Regierung hat kein Manöver gescheut, die parlamentarische Prüfung, Meinungsbildung und Abstimmung zu umgehen. Ihr war bewusst, dass die Nationalversammlung als gewählte Vertretung des Volkes diesem Reformgesetz nie die nötige Mehrheit gegeben hätte. Darum griff sie lieber zum Artikel 49.3.«

Premierministerin Borne warf der linken Opposition vor, sie habe durch Tausende von Änderungsanträgen die Debatte über das Gesetz blockiert und jetzt keinen Grund für Empörung. Kaum war am Montagabend das knappe Scheitern des Misstrauensantrags bekannt geworden, fanden sich – wie bereits am Freitag nach der Rede der Premierministerin in der Nationalversammlung mit dem Rückgriff auf Artikel 49.3 – in den Straßen von Paris spontan mehrere tausend Menschen zu Protestmärschen zusammen. Am Rande gab es wieder Zusammenstöße gewaltbereiter Demonstranten mit der Polizei, mutwillige Zerstörungen sowie angezündete Mülltonnen und Autos. Mehr als 200 Demonstranten wurden von der Polizei vorübergehend festgenommen und fast alle nach Stunden ohne Anzeige wieder freigelassen. Das zeuge von der Willkür der Polizei, die einzig bestrebt sei, die spontanen Demonstranten einzuschüchtern, erklärte die Anwältegewerkschaft SAF.

Zu vergleichbaren Demonstrationen kam es am Montagabend und in der Nacht zum Dienstag auch in Lyon, Straßburg, Lille, Dijon und Saint-Étienne. Auch die Streiks gehen weiter, vor allem im Verkehrswesen und in der Energiewirtschaft: Raffinerien werden blockiert, viele Tankstellen können bereits nicht mehr beliefert werden. Am Flüssiggasterminal von Dourges bei Nantes, das durch die Beschäftigten besetzt war, griff die Polizei gewaltsam ein, um das Löschen eines Tankers zu erzwingen. Für kommenden Donnerstag haben die acht größten Gewerkschaften und die fünf bedeutendsten Jugendverbände des Landes zum nunmehr neunten Streik- und Aktionstag gegen die Rentenreform aufgerufen.

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