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Claas Relotius: »Große Scheiße«

Die Doku »Erfundene Wahrheit« schildert den Skandal um den Geschichtenfälscher Claas Relotius

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Fake it till you make it.
Fake it till you make it.

Manche Geschichten muss man vom Ende her erzählen. Weil es ihren Anfang verändert und Leerstellen füllt – oder öffnet. Jene von Claas Relotius zum Beispiel, die Sky ab Freitag in einer abendfüllenden Dokumentation erzählt, sähe womöglich anders aus, wenn 20 mittelbar Beteiligte des folgenschwersten Skandals bundesdeutscher Medien abseits der Hitler-Tagebücher zumindest Ansätze von Berufsethos, Pflichtgefühl, Rückgrat, Moral besäßen.

Von alledem aber haben Klaus Brinkbäumer und Clemens Höges, Ulrich Fichtner und Alexander Osang, Özlem Gezer und Matthias Geyer, Kay Siering und André Geicke, Hauke Janssen oder Anja zum Hingst und zehn weitere Menschen in »Spiegel«-Diensten, die Daniel Sager angefragt hatte, offenbar so wenig, dass sie auf Interviewanfragen des Autors von »Erfundene Wahrheit« teilweise nicht mal reagiert, geschweige denn geantwortet haben.

So viel zum journalistischen Ehrgefühl bei Europas größtem Nachrichtenmagazin, ein Monolith der bundesdeutschen Presselandschaft, der zwischen Wirtschaftswunder und Wende zum Sturmgeschütz der Demokratie geworden war, die Relotius vor gut vier Jahren ein Stück weiter Richtung Abgrund zog, weil die Glaubwürdigkeit der gesamten Branche, immerhin als Kontrollorgan die vierte Gewalt im Staat, unter diesem Skandal gelitten hat. Dazu also wollte (durfte?) das schweigsame Dutzend Aussageverweigerer nichts sagen? Wie gut, dass andere willensstärker und resoluter sind und reden. Allen voran Juan Moreno.

Zur Erinnerung: Als Claas Relotius Ende 2018 für Reportagen aus nahezu jedem Krisengebiet unserer disruptiven Zeit den 19. Branchenpreis bekam, brachte nur sein freiberuflicher Kollege den Mut auf, ihren Wahrheitsgehalt offen anzuzweifeln. Schon länger waren Gerüchte um Fakes im Werk vom Starreporter durch die Hamburger Speicherstadt geweht. Kleinere Zweifel, größere Skepsis, nichts Halbes, nichts Ganzes. Die jüngste Titelstory über eine Bürgermiliz an der Grenze zu Mexiko aber, sagt Moreno, und presst ein Lachen in Nicolai Mehrings Kamera, »so was gibt’s nicht«.

Während der Artikel aus dem Off vorgelesen wird, läuft dessen Protagonist Tim Foley zum Beweis schwerbewaffnet durch Arizonas Wüste und sucht Flüchtlinge. »Er kann nichts sehen«, schreibt Relotius. »Dann drückt er ab.« Ein Mordversuch also unter Pressebeobachtung. Moreno kann es nicht glauben. Er geht zur Ressortleitung. Er geht zur Chefredaktion. Er bittet um Aufmerksamkeit. Er kriegt die Kündigung. »Ein Riesensystemversagen«, urteilt Steffen Klusmann, Nachfolger des damaligen Chefredakteurs Brinkbäumer. Und weil dessen Omertà so gut funktionierte, dass niemand wissen wollte, was niemals sein durfte, übernimmt Regisseur Daniel Sager Brinkbäumers Recherche-Arbeit.

Er reist nach Arizona und spricht mit dem vermeintlichen Mörder Foley, den Relotius nie getroffen hatte. Reist nach Bern und spricht mit Daniel Puntas, dessen Reportage-Magazin ebenfalls von ihm betrogen wurde. Reist nach Minnesota und spricht mit Bewohnern von Fergus Falls, wo er angeblich wochenlang zum Thema USA unter Trump recherchiert hatte. Reist zu Zeitzeugen, Weggefährten, Zaungästen, Kollegen, Opfern und – nein, nicht zu Tätern, die wie Relotius kollektiv verstummen. Mit immensem Aufwand spürt Sager einem Skandal nach, der zu verhindern gewesen wäre, hätten die Verantwortlichen nur gewollt.

Wie in seiner Doku zur Enthüllung des Ibiza-Videos der »Süddeutschen Zeitung«, verliert sich Regisseur Daniel Sager dabei oft im Kamera-Kriechgang durch Redaktionsflure und Drohnenflügen über Fake-Tatorten. Ungeachtet dieser manierierten Entschleunigungsästhetik aber ist »Erfundene Wahrheit« das feuilletonistische Pendant zu einer Selbstreinigung, die den »Spiegel« – und damit pluralistische Medien insgesamt – womöglich vorm Super-GAU bewahrt.

Am Ende behauptet ein hastig hinzugerufener »Compliance-Ermittler« zwar ein wenig wohlfeil, die interne Aufklärung sei halbherzig, subjektiv, parteiisch geblieben. Aber das ist nur berufsskeptische Prinzipienreiterei. Der »große Glaubwürdigkeitsschaden«, den »SZ«-Chefredakteur Wolfgang Krach seiner gesamten Branche nach dem Sündenfall konstatiert, wurde mit glaubhafter Gewissenhaftigkeit angegangen. Was aber auch bitter nötig war, angesichts der Flurschäden, die ein (nach eigener Aussage pathologischer) Lügner anrichten durfte.

»Erfundene Wahrheit« spürt ihr nach, stellt Verbindungen her zu Georg Francks »Ökonomie der Aufmerksamkeit« und was sie mit seriösem Journalismus macht, zeigt die Gefahr für Frieden, Freiheit und Demokratie durch verlorenes Vertrauen auf und spielt den Ball im Abspann zu den 20 Aussageverweigerern vom Anfang zurück, die mit Journalismus ihr Geld verdienen, aber nicht verstehen, was Stille darin verursacht, wenn Lärm vonnöten ist. Juan Moreno hat es auf seinen Ordner zu Claas Relotius gekritzelt: »Große Scheiße«.

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