Sleep Paralysis

Nächtliche Horror-Trips und andere Schlafprobleme

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Atemlos durch die Nacht
Atemlos durch die Nacht

Seit einiger Zeit erlebe ich ein Phänomen, das Sleep Paralysis genannt wird. Es passiert meistens, wenn ich einen Mittagsschlaf mache – oder auch, wenn ich zu früh aufwache. Aber nie, wenn der Wecker klingelt. Die Schlafparalyse fühlt sich so an, wie man sich ein Wachkoma vorstellt. Zur einen Hälfte ist man noch in der REM-Phase, zur anderen hat man das Gefühl aufzuwachen. Man träumt sozusagen, wach zu sein, manchmal träumt man sogar aufzustehen, ohne es zu tun. Man ist gefangen in der eigenen unzureichenden Wahrnehmung, als wäre die Verbindung zwischen dem Wahrnehmungsorgan und den körperlichen Funktionen gekappt. Man kann sich vorstellen, den Arm zu heben – aber man kann es nicht tun. Eine Art Lähmung. Ein Trip. Ein Horror-Trip.

In Darstellungen aus dem 19. Jahrhundert sitzen auf der Brust der anwesend-abwesenden, in halbtransparente Gewänder gekleideten, somnambulen Frauen albtraumhafte Kreaturen, die mit großen Augen aus der Malerei schauen. Niemals schauen sie die paralysierte Halbschlafende, sondern immer nach draußen uns Betrachtende an.

Ein Freund erzählte mir, dass er seit seiner Kindheit mindestens einmal in der Woche unter Schlafparalyse leide. Mittlerweile erschreckt ihn der Zustand nicht mehr, er weiß im Moment des Erlebens, dass die Gefangenschaft im Schlaf nur einen kurzen (wenn auch ewig scheinenden) Moment andauert. Der Grund für seine regelmäßigen wachkomaartigen Zustände ist, dass er im Schlaf leichten Sauerstoffverlust erleidet. Seine Zunge ist nämlich besonders lang, nicht lang nach vorne, sondern der Teil, der in seinen Rachen hineinragt. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass seine Lieblingstiere Kühe sind. Als ich einmal in einem Schweizer Supermarkt einzeln verpackte Kuhzungen sah, war ich beeindruckt von ihrer Länge und Rosigkeit, fast sahen sie noch lebendig aus.

»SH (Schleimhäute) feucht und rosig«, steht in dem Arztbrief, den ich letzte Woche mit nach nach Hause genommen habe. Dass Ärzte sich überhaupt mit meiner Schleimhaut beschäftigt haben, liegt an der vergrößerten, entzündeten Schildkröte in meinem Hals. Meine fettleibige Schildkröte könnte mich, unbehandelt, selbst fettleibig machen. Sie ist wohl auch Schuld an meiner Atemlosigkeit – jeden Morgen wache ich mit offenem, staubtrockenem Mund auf. Normalerweise weiß ich, dass ich besonders tief geschlafen habe, wenn ich im Schlaf sabbere – dieses Mal ist kein Speichel mehr übrig, ich röchele eher so vor mich hin.

Meinen Schlaf beobachte ich so genau, da ich jahrelang Insomnia hatte. Insomnia ist ein viel schöneres Wort als Schlafstörung, finde ich. Heute retten mich die sogenannten Schlafsterne, die zwar nicht verschreibungspflichtig sind und in harmlosem orangefarbenem Retro-Layout daherkommen, die aber trotzdem, wie mein Freund M. sagte, nicht ohne sind.

Ich denke daran, dass Hausschildkröten zu Anfang des Winters ins Gefrierfach gelegt und im Frühling aufgetaut werden. Sie erstehen wieder auf, so wie Jesus. Vielleicht ist meine Schildkröte nur im Winterschlaf? Als Jesus gerade dabei ist aufzuerstehen und zufällig seine Exfreundin Maria Magdalena trifft, will sie ihm, fassungslos und glücklich, um den Hals fallen. Er erwidert streng: Noli me tangere, was so viel heißt wie: Fass mich nicht an. Der Grund für seine Distanz ist, dass er bereits immateriell ist, schon eine Art Geist.

Schlafwandler*innen zu beobachten, hat immer etwas Okkultes, wie eine voyeuristische Geisterbeschwörung. Ich erinnere mich nicht an meinen eigenen, eher traumschwankenden als traumtanzenden Moment, aber dafür an die Erzählung, wie mein Freund J. mich in einer Sommernacht in Daunenjacke und -handschuhen vor seiner Schlafzimmerwand stehen sah und ich ihn fragte, ob er für mich die Wand wegräumen könnte. Er räumte (pantomimisch) für mich die Wand weg, ich war zufrieden und zog die Daunenkleider (die eigentlich seiner Mutter gehörten) wieder aus und legte mich in dem Sommerkleid, das ich noch immer trug, zurück zu ihm ins Bett.

Obwohl an der Geschichte nichts im engeren Sinne unangenehm ist, laufe ich noch immer rot an, wenn er sie, meistens in Dinnergesellschaft, erzählt. Irgendetwas an der eigenen geistigen Abwesenheit (als Geist) bleibt mit Scham besetzt. Oder einfach unheimlich im Freud’schen Sinn: heimlich, heimelig, das Fremde im eigenen Haus, das heißt, im eigenen Körper. Ob man sich nun bewegt, ohne das bewusst wahrzunehmen, oder bewusst wahrnimmt, ohne sich bewegen zu können – beides bleibt rätselhaft.

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