Blutige Geburt der Moderne

Eva-Maria Schnurr und Frank Patalong versuchen, die koloniale Vergangenheit Deutschlands aufzuarbeiten

  • Ulrich van der Heyde
  • Lesedauer: 4 Min.

Die koloniale Vergangenheit Deutschlands und deren kritische »Aufarbeitung« stand noch nie so sehr im Fokus des hiesigen öffentlichen Interesses wie in der Gegenwart. Die zutreffende Forderung an die Wissenschaft, sich mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte endlich zu befassen, ruft allerdings bei Fachleuten nur ein müdes Lächeln hervor. Denn seit Ende der 1950er Jahre in der DDR und etwa ein Jahrzehnt später in der alten Bundesrepublik hat man sich mit diesem unrühmlichen Kapitel deutscher Geschichte zu beschäftigen begonnen. Dutzende Bücher und einige hundert Studien zeugen von den Anstrengungen der Historiografie, die deutsche Geschichte in Übersee aufzuarbeiten.

Selbstverständlich sind noch so manche Fragen nicht ausreichend beantwortet, spezielle Fragestellungen müssen noch weiter untersucht werden, einige »weiße Flecken«, etwa zum Vergleich der deutschen mit anderen europäischen kolonialen Herrschaftsformen, müssen noch in langwierigen Forschungsprojekten beackert werden. Aber man muss nicht, wie einige sich mit der Thematik zuvor wohl nicht beschäftigende Publizisten meinen, darunter auch Journalisten, bei der Stunde Null anfangen. Und ja, es wurden bereits früher auch immer Kollegen aus den betreffenden Ländern des Südens in die Forschungsfragen, Kooperationen, Konferenzen, Publikationen und ähnliche wissenschaftliche Arbeitsformen einbezogen.

Aber nicht alle sich nunmehr für die Kolonialgeschichte interessierenden Vertreter der schreibenden Zunft nutzen die vorliegenden Forschungsergebnisse und die sich daraus ergebenden Herausforderungen, sondern greifen kühn, ohne die Fachliteratur, die wissenschaftlichen Dispute und, geschweige denn, die Dokumente in den Archiven zu kennen, zum Stift und versuchen – wie in dem hier vorzustellenden Buch – die Kolonialgeschichte einem breiten Lesepublikum zu erklären, oftmals mit eingeschränktem Blick. Wie etwa die Mehrheit der 18 hier versammelten Autoren, darunter nur zwei Historiker, während die anderen Journalisten und Redakteure aus dem Umfeld des Hamburger Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«. Ohne Belege oder Quellenverweise bleiben da viele – auch richtige und eigentlich nachvollziehbare – Darlegungen und Schlussfolgerungen für einen echten Erkenntnisgewinn fast wertlos. Man kann nur vermuten, woher die Verfasser ihr »Wissen« gewonnen haben.

Gänzlich nutzlos ist die Lektüre nicht. Der wohl wichtigste Satz in diesem Buch stammt von Sebastian Conrad, der in einem Interview mit zwei Journalisten sagte, dass wir heute nicht nur über die Umbenennung von Straßennamen und mögliche finanzielle Entschädigungszahlungen für Herero und Nama in Namibia reden sollten, sondern vielmehr »über strukturellen Rassismus … und darüber, dass die Ausbeutung der Kolonien letztlich die Moderne und den Kapitalismus begründet hat«. Für einen DDR-sozialisierten Leser ist dies eigentlich keine neue Erkenntnis, wurde dies doch bereits in der Schule gelehrt. Nicht nur aus diesem Grunde ist der Untertitel des Buches, der von einer »verdrängten Zeit« spricht, unzutreffend. Das eigene Unwissen wird einmal mehr als angeblicher Beleg für ein ganzes Volk ausgegeben. Der Grund hierfür ist vermutlich in der Tatsache zu suchen, dass in dem Sammelsurium von angesprochenen und kurz angerissenen Themen zur deutschen Kolonialgeschichte ein Blick auf die sich damit beschäftigende Wissenschaftsgeschichte gänzlich fehlt.

Besondere Hervorhebung verdienen die zwischen den Artikeln platzierten kurzen (zuweilen zu kurzen) Erläuterungen zu bestimmten Stichworten und Sachverhalten, zumeist aus der Feder von Uwe Klußmann. Das brandenburgisch-preußischen Kolonialabenteuer samt Sklavenhandel wird auf nur zwei Seiten von Nils Klawitter, ebenfalls ein »Spiegel«-Redakteur, kurz umrissen. Der Autor vergisst jedoch zu erwähnen, dass nicht nur das Kurfürstentum Brandenburg kolonialen Handel inklusive Sklavenhandel betrieb, sondern ab Beginn des 18. Jahrhunderts auch der Staat Preußen. Notwendige Korrektur: Es wurden von jenem nicht 30 000 Afrikaner, sondern knapp 20 000 Afrikaner in die Sklaverei in die Karibik verschifft. Was die Tragik natürlich nicht mindert.

Weitere »Kurzartikel« widmen sich Carl Peters, Bismarcks Kolonialpolitik, der Niederschlagung des Maji-Maji-Krieges (nicht Aufstandes) und weiteren Tiefpunkten der deutschen Kolonialgeschichte, die man eigentlich nicht in dieser Knappheit darstellen kann und sollte, da dies weder der politischen Bildung dient noch einer erfolgreichen Argumentation in den aktuellen, teils sehr kontroversen Diskussionen über die Folgen der deutschen Kolonialvergangenheit. Zu bedenken ist zudem, dass im Mittelpunkt des kolonialen Handels oftmals auch individuelle Interessen und Charaktereigenschaften standen und nicht immer wirtschaftliche oder machtpolitische Gründe. Andere Beiträge sind informativer und zuverlässiger, so etwa aus der Feder von Autoren aus den ehemaligen Kolonien, in eigenen Aufsätzen oder in Form von Interviews geboten.

Die größte Schwäche dieses Buches besteht jedoch darin, dass die Herausgeber nicht erklären, was sie unter Kolonialismus verstehen. Wie so oft verzichtet man auf eine Definition. Letztlich erlaubt das Buch, unter Beachtung der Monita, zumindest für bislang mit der Problematik nicht vertrauten Leser, einen populärwissenschaftlichen Einstieg. Mehr jedoch nicht.

Eva-Maria Schnurr/Frank Patalong (Hg.): »Deutschland, deine Kolonien«. Geschichte und Gegenwart einer verdrängten Zeit. DVA, 253 S., geb., 22 €.

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