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Erinnerungskultur: Mehr als eine Frage des Geldes
In Berlin kollidiert die Bewahrung historischer Erinnerungsorte mit Neubauprojekten für Wohnraum
Es ist Donnerstagabend und ein lauer Wind weht über das Areal des ehemaligen Zwangsarbeitslagers im Südosten Berlins. Zwei große Kastanien stehen neben den Baracken, Vögel zwitschern im Abendlicht. Fast absurd idyllisch wirkt dieser Moment auf dem Gelände, auf dem vor 80 Jahren vor allem Zwangsarbeiter aus verschiedenen Ländern Ost- wie Westeuropas sowie italienische Militärinterniete festgehalten wurden.
Heute umgeben das Dokumentationszentrum in Schöneweide Wohnhäuser, eine Kirche steht am Rand, direkt neben dem Gelände befindet sich ein Spielplatz. Ungefähr 60 Menschen sind gekommen und haben sich in einer der ehemaligen Baracken eingefunden, in denen noch bis Ende Mai die Ausstellung »Vergessen und vorbei? Das Lager Lichterfelde und die französischen Kriegsgefangenen« zu sehen ist. Sie beleuchtet unter anderem das weit gefasste Netz der Zwangsarbeit in Berlin (bis zu 3000 kleine Lager soll es gegeben haben, vermutet die Wissenschaft heute) und schaut auf die Entwicklung des historischen Ortes am südlichen Stadtrand.
Mit der Ausstellung wollte das Dokumentationszentrum auch die Frage klären, wie es mit dem Standort Lichterfelde-Süd weitergehen kann, der 2012 von der Groth-Gruppe gekauft wurde und an dem ein Wohngebiet entstehen soll. Welche Ausrichtung kann in diesem Kontext der Erinnerungsort nehmen? Wie soll mit der großen Fläche von 100 Hektar umgegangen werden, in einer Stadt mit notorischem Geld- und vor allem Wohnungsmangel? Wie viel Platz bleibt für die Historie?
Am Donnerstag hatte das Dokumentationszentrum zum Podiumsgespräch über die Zukunft des historischen Lagergeländes in Lichterfelde eingeladen, an dem neben der Leiterin des Zentrums, Christine Glauning, auch Anette Mischler von der Groth-Gruppe und Thomas Schleissing-Niggemann von der Bürgerinitiative KZ-Außenlager Lichterfelde teilnahmen.
Klar ist: Es gibt unterschiedlichste Interessen bei der Erschließung eines solchen Grundstückes. Da sind im Fall von Lichterfelde zum einen die Überreste eines ehemaligen Lagers, eine über acht Jahrzehnte gewachsene Naturlandschaft mit Tieren, die geschützt werden will. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Gelände zudem Truppenübungsplatz der US-Amerikaner. Es gibt angrenzende Nachbarschaften mit Anwohnern, die Wünsche und Ideen haben. Auch die Nachkommen der ehemaligen Zwangsarbeiter aus Frankreich zeigen großes Interesse an dem historischen Standort und dass er als solcher genutzt und begangen wird. Dazu kommen die vielen Menschen in Berlin, die irgendwo möglichst bezahlbar wohnen wollen. »Nutzungskonkurrenz« ist hier das Schlagwort. Wer bekommt wie viel vom Flächen-Kuchen?
Dass es viele Interessen zu verbinden gilt, sei der auf den Bau von größeren Quartieren spezialisierten Groth-Gruppe – auch bekannt für ihre Großspenden an die Berliner CDU und SPD – klar gewesen, als sie vor über zehn Jahren das Gelände kaufte. Man wisse um die Herausforderungen bei der Erschließung eines solch großen Grundstückes. Schließlich hätten alle ihre Geschichte, erklärt Groth-Sprecherin Anette Mischler. Man sei immer an Kooperation interessiert gewesen, vor allem nachdem klar gewesen sei, dass der Ort einzigartige historische Fundstücke beherbergt.
Inzwischen steht der Bebauungsplan, den die Besucherinnen und Besucher auch in der Ausstellung sehen konnten: Die Bebauungsfelder sind ausgewiesen, zwei der alten Baracken werden instand gesetzt und für den kommenden Träger hergerichtet, also für diejenigen, die schließlich den historischen Ort aufbereiten werden. Dazu wird es Stelen geben auf dem Gelände und einen Flächenplan des ehemaligen Lagers, um die Ausmaße zu verdeutlichen. Für diese Grundfinanzierung steht die Groth-Gruppe. Derzeit werden noch die Bebauungsflächen geräumt, wofür ansässige Eidechsen vollständig umgesiedelt werden müssen.
Doch wie geht es weiter? Alle sprechen über die Einzigartigkeit des ehemaligen Gefangenenlagers in Lichterfelde-Süd. Es gibt in Berlin keinen weiteren Standort, an dem das Thema Zwangsarbeit in einer so großen historischen Stätte aufbereitet wurde. Doch niemand hat genug Geld, um die Trägerschaft allein zu übernehmen. Das Bezirksamt könnte bei Bedarf eventuell mitfinanzieren, ausreichend Geld aber für die alleinige Trägerschaft hat es nicht. Genauso übersteigt es die Möglichkeiten des Vereins Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde. Die Investorengruppe Groth selbst steigt nach dem Bau des Quartiers aus dem Projekt aus.
Gedenkstättenleiterin Christine Glauning findet, dass bei der Größe und Besonderheit des Standorts Lichterfelde auch das Land Berlin in die Pflicht genommen werden müsste. Zwar habe es überall in der Stadt kleine Lager gegeben, viele aber seien direkt nach dem Krieg abgerissen worden oder später Neubebauungen zum Opfer gefallen. Auch andere Modelle sind möglich, wie zum Beispiel im Krumpuhler Weg in Reinickendorf. Das ehemalige Lagergelände wird inzwischen vom bezirklichen Museum verwaltet. Das frühere SA-Gefängnis in Schöneberg wiederum wurde in der Entstehungsphase von der Topographie des Terrors begleitet, dann an den Bezirk und das Museum in Schöneberg übergeben. Doch auch Konzepte, bei der die Verantwortung an private Vereine und zugleich öffentliche Einrichtungen gegeben wird, sind denkbar.
Nicht nur aus finanziellen Gründen ist es wichtig, einen Träger zu finden. Wer auch immer die Trägerschaft übernimmt, bestimmt letztlich Ausrichtung und Werdegang eines solchen Erinnerungsortes maßgeblich mit: Wird es ein lebendiger Ort mit Workshops, Lern- und Begegnungsgruppen? Werden Jung und Alt einbezogen? Soll einmal in der Woche die Tür aufgeschlossen werden, damit Interessierte einen Blick hineinwerfen können? Dahinter steht schlussendlich auch die Frage, was man mit diesen historischen Orten erreichen will: Lernen, gedenken, erinnern, anschauen, weitergeben? Und wie geht man damit um, dass, wenn das Wohngebiet Neu-Lichterfelde gebaut ist, inmitten der neuen Häuser die Baracken stehen, die an Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit erinnern?
Für manchen Besucher der Ausstellung »Vergessen und vorbei?« ist es schlicht unvorstellbar, auf solch einem historischen Gelände zu wohnen. Zwangsarbeit hat inmitten der deutschen Gesellschaft und mitten in Berlin stattgefunden, dort gehören auch die Erinnerung und das Lernzentrum hin, findet dagegen Christine Glauning. Es sei wichtig, bei der Ausrichtung und Konzeption eines historischen Ortes immer partizipativ vorzugehen und die Nachbarschaft und Interessengruppen einzubinden.
Am Standort Schöneweide ist die ehemalige Lagerstätte heute Teil des Wohngebietes. Kinder spielen direkt daneben auf dem Spielplatz. Auch an anderen Orten in Berlin ist die Geschichte ins Wohnen und Leben integriert. Man könne die Trennung von Lager und Wohnen heute nicht künstlich aufrechterhalten, hebt Glauning hervor. Denn Zwangsarbeit habe nicht nur am Rande, sondern inmitten der Bevölkerung stattgefunden. Man möchte hinzufügen: Nicht nur inmitten, sondern auch mit der Bevölkerung fand Zwangsarbeit statt. Die Menschen haben die Lager in der direkten Nachbarschaft gesehen, von der Arbeit profitiert oder beschäftigten sogar selbst Zwangsarbeiter in ihren kleinen Unternehmen.
Die Ausstellung »Vergessen und vorbei?« wird im Sommer nach Steglitz in die Schwartzsche Villa umziehen und dort vom 13. Juni bis 27. August zu sehen sein. Dann können sich die Anwohner des Bezirks Steglitz-Zehlendorf noch einmal mit der Frage auseinandersetzen, was einst vor den Toren der Stadt geschah und wie sich dieses Erbe heute in eine wachsende Stadt integrieren lässt. Dem NS-Erbe kann niemand in diesem Land aus dem Weg gehen. Wir tragen es alle mit uns und sollten uns (endlich) ernsthaft damit auseinandersetzen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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