Der Krieg in der Ukraine zwischen Verdun und Roboterkrieg

Die Ukraine hat im Hinterland eine effektive Flugabwehr und Russland kein Konzept dagegen

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Analysen des Kriegsverlaufes kommen zu höchst differenzierten Ergebnissen. So erscheinen – jenseits aller moralischen Wertungen – manche Kämpfe wie Repliken aus dem Ersten Weltkrieg. Bei Bachmut im Osten der Ukraine wird bereits länger gekämpft als bei der blutigen 302-tägigen Schlacht um Verdun im Jahre 1916. Die Taktik ist ähnlich, die Waffen und ihre Einsatzmethoden vergleichbar. Das zeigt ein Blick auf das blutgetränkte Schlachtfeld. Dieses Gemetzel hat so gar nichts gemein mit den modernen Gefechten, die an Militärschulen gelehrt werden.

Anderenorts gibt es opferreiche Häuserkämpfe – vergleichbar mit denen 1941 und 1942 in Stalingrad. Wie damals im Zweiten Weltkrieg versuchen beide Seiten durch den massenhaften Einsatz von Artillerie aller Art Überlegenheit zu schaffen. Zudem setzt die russische Armee – wie einst die Rote Armee – auf den massiven Einsatz von Panzern und gepanzerten Kräften. Verlustreiche Sturmangriffe und eine in jeder Weise starre Kampftaktik treiben die Moral der Truppe in ungeahnte Abgründe.

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Flexibilität dagegen zeigen die ukrainischen Kommandeure. Die Truppen beherrschen die aus dem Westen gelieferten Aufklärungs- und Kampfmittel sowie die damit verbundene Taktik des hinhaltenden Gefechts. Ob sie auch offensive Operationen größeren Ausmaßes durchführen können, ist noch unklar. Auf beiden Seiten übernehmen Drohnen verschiedenster Klassen das Kämpfen. Noch ist unklar, wer die sich dadurch ergebenden Herausforderungen in Bezug auf Beschaffung, Bedienung und Einsatz besser meistert. Deutlich wird ein neues ethisches und moralisches Dilemma, dass die Robotersystem immer mehr autonom handeln. Das humanitäre Völkerrecht geht bisher nicht explizit auf Waffen ein, die sich durch künstliche Intelligenz auszeichnen.

Noch aber nehmen simple unbemannte Klein- und Kleinstgeräte einen erstaunlichen Stellenwert ein. Sogenannte Loitering Weapons – auch bekannt als Kamikaze-Drohnen – verändern die Art der Gefechte. Dabei handelt es sich um billige Lenkwaffen, die ohne bestimmtes Ziel gestartet werden und über relevanten Kampfgebieten herumlungern (Englisch »loiter«). Machen sie ein lohnendes Ziel aus, schlagen sie zu. Einige sind ausgerichtet auf die Panzerbekämpfung, andere, die Spielzeugdrohnen ähneln, machen hinter den Frontlinien Jagd auf Nachschub- und Kommandeursfahrzeuge. Im Netz verbreitete Videos solcher Angriffe haben eine nicht zu unterschätzende moralische Wirkung. Ob ihres geringen Radarquerschnitts sind sie schwer zu bekämpfen. Noch ist der Einsatz solcher Kleinstdrohnen in Schwärmen, die den Kampfwert auf dem Gefechtsfeld wesentlich steigern, selten. Zurückgegangen, weil extrem verlustreich, ist der Einsatz von herkömmlichen Kampfhubschraubern.

Die Ukraine verfügt kaum über weitreichende schwerere Kampfdrohnen. Auch Russland ist mit dieser Technik offenbar wenig vertraut. Moskau setzt stattdessen auf den massenhaften Einsatz von Drohnen, die zumeist nach iranischen Plänen gebaut sind. Sie werden zu Dutzenden und oft nachts gegen große Flächenziele ausgeschickt. Die ukrainische Flugabwehr kann sie inzwischen – dank westlicher Raketen- und Ausbildungshilfe – zu einem Gutteil abfangen. Das alles erinnert an den Zweiten Weltkrieg und die Terroreinsätze der deutschen V1 gegen britische Städte. Ab 1944 wurde die Flügelbombe ergänzt durch V 2-Raketen, die eine Tonne Sprengstoff tragen konnten. Russland feuert heute in großen Mengen vor allem Iskander-Raketen gegen Kiew und andere Städte. Die sind teuer, kompliziert in der Herstellung und ihre Treffgenauigkeit ist höchst unzureichend. Die angestrebte demoralisierende Wirkung auf die ukrainische Bevölkerung tritt offenbar nicht ein.

Selbst für Fachleute schwerer einzuschätzen ist der Wert der jeweiligen Luftstreitkräfte. Russland ist rein zahlenmäßig weit überlegen. Doch es setzt seine Jets selten ein. Luftkämpfe sind ebenso selten wie Einsätze zur Unterstützung der Bodentruppen oder der Seestreitkräfte. Moskaus Bomber nutzen Abstandswaffen, um nicht in den Bereich der ukrainischen Luftabwehr zu geraten. Was sich ändert, wenn die Ukraine demnächst moderne westliche F-16-Jets erhält, bleibt abzuwarten.

Fachleute warten nun gespannt auf das demnächst beginnende »Air Defender 2023«-Manöver der Nato, um zu beurteilen, ob sich im Bündnis bereits eine Transformation der modernen Kriegsführung abzeichnet. Das mag für automatisierte Aufklärungs- und Führungssysteme der Fall sein. Derzeit jedoch schaut es nicht so aus, als müsse die Nato ihre grundsätzliche Luftkampftaktik gravierend umstellen.

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