• Kultur
  • Kultur/"The Crowded Room"

Serie »The Crowded Room«: Ein Recht auf Therapie

Die Serie »The Crowded Room« erzählt von einem jungen Mann mit einer schweren Persönlichkeitsstörung im New York der 70er Jahre

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.
Reden hilft: Psychologin Rya Goodwin (Amanda Seyfried) und Danny Sullivan (Tom Holland)
Reden hilft: Psychologin Rya Goodwin (Amanda Seyfried) und Danny Sullivan (Tom Holland)

Im Jahr 1978 wurde der damals 33-jährige Billy Milligan als erste Person überhaupt von einem New Yorker Gericht wegen einer dissoziativen Identitätsstörung für nicht zurechnungsfähig erklärt. Insgesamt 24 Persönlichkeiten, die nichts voneinander wussten, lebten in dem jungen Mann, der wegen Vergewaltigung und Raubüberfall vor Gericht stand. Der Verteidigung ging es darum, dass Milligan, der als Kind zigfach von seinem Stiefvater sexuell missbraucht worden war, in einer psychiatrischen Einrichtung therapiert werden sollte, anstatt für viele Jahre ins Gefängnis zu gehen.

Der Fall machte damals weltweit Schlagzeilen, bald erschien die Geschichte auch in Buchform als »Die Leben des Billy Milligan«. Nun erzählt Apple TV mit der starbesetzten Serie »The Crowded Room« frei nach Motiven dieser Geschichte den fiktiven Fall von Danny Sullivan (Tom Holland). Der wird nach einer Schießerei in einer belebten Gegend Manhattans festgenommen. Er behauptet, einer Freundin nur geholfen zu haben, jemanden zu erschrecken, und selbst keine Kugel abgefeuert zu haben. Nur zeigt die Überwachungskamera, dass Danny allein war und auch, dass er geschossen hat.

»The Crowded Room« erzählt vor allem von den Therapiesitzungen mit der Psychologin Rya Goodwin (Amanda Seyfried), die sich sehr behutsam mit dem verunsicherten Danny auseinandersetzt. Nur fängt der immer wieder an, mit britischem Akzent zu sprechen, wird plötzlich ungemein selbstbewusst und nennt sich selbst dann Jack. Einmal wird er kurz gewalttätig, wobei Danny auch hier eine ganz andere Körperhaltung an den Tag legt, sich Yitzack nennt und wiederum mit veränderter Stimme spricht.

Danny erzählt der Psychologin von der engen Beziehung zu seiner Freundin Ariana (Sasha Lane), die als wildes Partygirl durch die queeren Clubs New Yorks zieht, aber auch von seinen Schulfreunden Mike (Sam Vartholomeos) und Johnny (Levon Hawke). Erst langsam – und das inszeniert die Serie ungemein spannend – wird klar, dass all diese Personen Erfindungen von Danny sind.

Ihm selbst ist das nicht bewusst. Jede dieser von ihm geschaffenen Personen hat ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben geholfen und ihn quasi gerettet. Das beginnt mit seinem imaginierten Zwillingsbruder, der die Misshandlungen durch den Stiefvater erduldete, bis hin zu Yitzack, der ihn vor prügelnden Mitschülern rettete und seinem Stiefvater Angst einjagte.

Mitunter mögen diese psychologischen Herleitungen der Persönlichkeitsabspaltungen in der Serie als quasi rettende Anker der wirklichen Komplexität dissoziativer Störungen nicht wirklich gerecht werden. Und wenn sich irgendwann verschiedene erfundene Charaktere Dannys in einem gigantischen Stall treffen, um miteinander zu reden, mutet das etwas zu simpel und filmgerecht inszeniert an.

»The Crowded Room« fordert aber gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Menschen ein, die unter derartigen Störungen leiden. Es geht nicht darum, sie auszusortieren, wie das die Staatsanwältin in dem Gerichtsverfahren gerne täte. Denn die externalisierten Figuren Dannys haben vor allem etwas mit dem zu tun, was er als Kind erleben und erleiden musste. Insofern geht es in der Serie zu einem ganz erheblichen Teil auch um die familiären Mechanismen von Manipulation, Einschüchterung und Schweigen im Falle sexuellen Missbrauchs gegenüber Kindern.

»The Crowded Room« fächert in zahlreichen Rückblenden das Leben Danny Sullivans und seiner imaginierten Persönlichkeiten auf und bietet dabei auch ein ungemein stimmiges und lebendiges Panorama der 70er Jahre. Es geht um piefige Familienstrukturen, wilde Schülerpartys, erste Drogenerfahrungen, jede Menge sehr gekonnt eingesetzte Musik von Rocky Horror Picture Show bis Pink Floyd, aber auch um New Yorker Nightlife, queeres Begehren und den Kampf um eine zeitgemäße und reformierte Strafverfolgung.

Die bald auf der Kippe stehende Karriere der alleinerziehenden und sich ständig mit ihrer Mutter zankenden Psychologin Rya Goodwin gehört ebenso dazu wie der mit seiner posttraumatischen Störung kämpfende Anwalt und Vietnam-Veteran Stan (Christopher Abbott), der in dieser stilistisch dicht inszenierten Serie erfolgreich vor Gericht für Dannys Recht auf Therapie kämpft.

Verfügbar auf Apple TV+ ab 9.6.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal