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Schluss machen mit der Liebe

Constance Debrés Romane entwerfen eine radikale Absage an die Liebe und die Hetero-Kleinfamilie – queer-feministischer Entwurf oder Ego-Trip?

  • Aletta Diefenbach und Gesa Jessen
  • Lesedauer: 13 Min.
Radikaler Gestus: Die Anwältin und Autorin Constanze Debré warf sich mit Mitte Vierzig in ein neues, queeres Leben.
Radikaler Gestus: Die Anwältin und Autorin Constanze Debré warf sich mit Mitte Vierzig in ein neues, queeres Leben.

Wo gehst du morgen schwimmen?« – eine ungewöhnliche Frage, um sie einer Autorin auf einer Lesung zu stellen. Doch genau das will das Publikum in der Volksbühne von Constance Debré wissen, die da ist, um über ihren Roman »Love Me Tender« zu sprechen. Wird sie genau wie ihre Erzählerin am Morgen irgendwo in Berlin ihre zwei Kilometer Kraul schwimmen? Wie groß sind die Ähnlichkeiten zwischen der Autorin und der Erzählerin ihrer Romane? Wo kann man sie auf eine Marlboro Light treffen? Debré beantwortet die Fragen nicht, aber das tut der Faszination, die sie auf ihre Leser*innen ausübt, keinen Abbruch. Im Gegenteil. Sie kaufen ihre Bücher, auch das Parfüm »Habit Rouge«, das die Erzählerin trägt. Auf der Website »Goodreads« kommentiert jemand »Love Me Tender« mit »meine Bibel«, jemand anderes schreibt »Feministischer Must-Read!«

Und worum geht es in diesem Buch? Auf der ersten Seite stellt die Erzählerin klar: »Ich frage mich, was man vor uns verbirgt, was man mit dieser großen Erzählung von der Liebe eigentlich von uns will.« Es geht also um die Liebe, die ein Problem wird, wenn sie allzu groß verpackt ist. Debrés Romane sind auf der Suche nach etwas anderem: nach dem Selbst, der Freiheit, dem Begehren, der Unabhängigkeit. Dafür muss die Liebe aus dem Weg geräumt oder zumindest radikal verändert werden. »Wann machen wir Schluss mit der Liebe? Warum gelingt das nicht?«, sind daher die Fragen, die Debrés Erzählerin beschäftigen – und offenbar auch ihre Leser*innen.

Die alte Geschichte Liebe

Dass Literatur uns etwas über Liebe erzählt, ist eine alte Geschichte, die doch immer neu bleibt. Nicht nur ist das Lieben und – wenn auch im geringeren Maße – das Geliebtwerden nach wie vor eines der beliebtesten Sujets literarischer Texte. Darüber hinaus nimmt die Liebe selbst Formen an, die der Literatur entlehnt sind. Sie folgt einem Spannungsbogen, schafft unerwartete Sinnzusammenhänge, findet symbolische Bilder für Gefühle und steigert sich zu dramatischen Szenen. Das heißt, die Beziehung zwischen Liebe und Literatur ist eine wechselseitige: Gesellschaftliche Normen und Praktiken des Liebens finden ihren Niederschlag in literarischen Texten. Gleichzeitig schüren literarische Liebesdarstellungen Erwartungen, verfestigen Formen des Fühlens oder untergraben sie.

So beschreibt Anne Carson in ihrem berühmten Essay »Der bittersüße Eros« (1986) anhand einer Lektüre der antiken Dichterin Sappho, wie sich Liebesskripte in einem Dreiecksschema entspinnen. Da gibt es immer das liebende Subjekt, das geliebte Objekt und das Hindernis zwischen beiden. Wie diese Spannung ausgestaltet ist, unterliegt wiederum historischen Veränderungen – und gibt uns Aufschluss darüber, welche Funktion die Liebe in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen erfüllt. Die Literaturwissenschaft zieht gerne Goethes »Die Leiden des jungen Werther« als Ausgangspunkt einer modernen Gefühlskultur heran, die sich im Europa des 18. Jahrhunderts entwickelte. Der damalige Bestseller stieß auch deswegen auf so große Resonanz, weil sein Liebesskript intensive, tragische Liebe mit Authentizität, Freiheitsdrang und Natürlichkeit verband – Idealen, die zur Herausbildung eines bürgerlichen Selbstverständnisses beitrugen.

200 Jahre später wählte Roland Barthes in seinem Glossar der Liebe, dem alphabetisch geordneten Sammelsurium »Fragmente einer Sprache der Liebe«, erneut Goethes »Werther« als Bezugspunkt beim Schreiben über das Lieben. Vor dem Hintergrund von damaligen Denkrichtungen, der Psychoanalyse und der Dekonstruktion, betonen die »Fragmente« die Eigenständigkeit und Körperlichkeit von Sprache. Entsprechend dem Zeitgeist der 1960er und 70er Jahre wird Liebe hier verwoben mit einem Ich, das ortlos, wandelbar und vom Begehren geleitet ist. Und es ist ebendiese historische Linie, in die sich auch Constance Debré einreiht. Sie verfasste 2007 ihre eigene Version der »Fragmente«, das Abcdarium »Manuel pratique de l’idéal«, inspiriert von Roland Barthes und auch George Perec. Kurz darauf wurde sie mit »Play Boy«, »Love Me Tender« und »Name« selbst zur Autorin international erfolgreicher, viel besprochener und prämierter Romane, die von der Liebe handeln. Welche Liebesskripte aber schreiben Debrés Texte fort und auf welche zeitgenössischen Bedürfnisse und kollektiven Fantasien verweisen sie?

Homosexualität als Urlaub?

Auch wenn die einzelnen Texte für sich stehen, erzählen alle drei Romane Episoden im Leben einer Mitte 40-jährigen Pariser Anwältin aus gutem Hause, die ihre Ehe und ihren Beruf hinter sich lässt, um sich ganz dem Schreiben zu widmen und Beziehungen mit Frauen zu führen. In Zusammenhang mit diesem radikalen Bruch kreisen die Romane um die Frage, wie Lieben und Geliebtwerden zu Erzählungen werden, die das Selbst einengen oder befreien.

Da ist zum einen die Ehe – heterosexuell, monogam, langweilig. In »Play Boy« trennt sich die Erzählerin nach 20 Jahren von ihrem Mann, in »Love Me Tender« sind die gleichen Figuren in einen erbitterten Sorgerechtsstreit verstrickt. Die familiäre Liebe, wie die zwischen der Erzählerin und ihrem Vater, ist vor vielen Jahren verflogen, wie es in »Name« heißt. Die Liebe zum eigenen Sohn gestaltet sich komplizierter: Unter seiner Abwesenheit und Ablehnung leidet die Erzählerin, bis sie schließlich lernt, ohne ihn zu leben. Dieser Prozess ist Trauerarbeit und Genesung zugleich, der schließlich mit einer überstandenen Grippe verglichen wird.

Die Erzählerin findet zu sich selbst, indem sie sich von Beziehungen lossagt, ein Leben als Nomadin führt, mit wenig Geld, aber viel Zeit, um schwimmen zu gehen, zu schreiben, die Stadt als Dandy zu durchstreifen – und Beziehungen mit Frauen zu führen. Mit ihnen erlebt sie eine dritte Art der Liebe: Eros, das sexuelle Begehren. Zunächst schüchtern, erkundend, dann mit einer zuvor unvorstellbaren Lust und Begierde erlebt sie ein Coming Out oder vielmehr eine Rückkehr zu ihrer Homosexualität, die eigentlich als Kind schon klar war. Eros tritt dabei manchmal als echte Liebe auf, immer wieder aber auch als deren Antipol, der als »Bettgeschichte«, »Sex« oder »Fick« bezeichnet wird. Die Beziehungen zielen nicht auf Dauer und Verpflichtung. Die Erzählerin langweilt es, wenn die Frauen, mit denen sie ins Bett geht, von ihren Familien sprechen, sich eine feste Partnerschaft wünschen, »einen Urlaub oder einen Abend in einem netten Restaurant« oder sogar »eine Wohnung, einen Hund, Kinder«. Diese Aspekte von Liebe lehnt die Erzählerin ab, da sie mit Besitzansprüchen, Routinen, der Herstellung von Normalität verbunden sind. »Ich dachte bei der Homosexualität gehe es auch darum«, schreibt Debré.

Zu den Autorinnen

Aletta Diefenbach arbeitet als Soziologin am Sonder­forschungs­bereich »Affective Societies« der Freien Universität Berlin und forscht zu sozia­len Bewegun­gen, Religion, poli­ti­schen Emo­tio­nen und zur Bedeu­tung von Affekt in kriti­schen Theorien.
Gesa Jessen ist Literaturwissenschaftlerin und Mitarbeiterin am Sonder­forschungs­bereich Affective Societies der Freien Universität Berlin. Sie hat zur Beziehung von Literatur und Natur im 19. Jahr­hundert promoviert, zur Literatur­politik der Neuen Rechten geforscht und beschäftigt sich momentan mit Politiken des Lesens und neuen Sprachen der Liebe in Literatur und Aktivismus.

Orientiert an queeren künstlerischen Positionen wie der von Kathy Acker, Hervé Guibert oder Oscar Wilde ist neben dem Schreiben auch das Lieben eine lustbetonte und radikale Praxis der Selbstverwirklichung: »Ich liebe das erste Mal, weil ich Sex ohne alles liebe, ohne alles, was beruhigen oder verpflichten könnte, ohne Liebe, ohne Reden, ohne Vorgeschichte, ohne Gewohnheit.« Im Bild von Liebe, das Debré in ihren Romanen zeichnet, scheint also wieder das Ideal von Authentizität, Spontanität und Intensität eines »Werther« auf. Dieses wird, wie bei Barthes, mit der ästhetischen Erfahrung des Selbst verbunden. Die Erzählerin kultiviert einen bohemianhaften Habitus, zu dem Zigaretten, Lederjacke, Tätowierungen, rasierte Haare, viel Sex und eine Verachtung für allen Schnickschnack, sei es in der Einrichtung oder im sozialen Umgang gehören. Sie sieht sich selbst als »einsamer Cowboy«.

Homosexualität, Künstlerinnenexistenz und Devianz greifen dabei ineinander. Ob es nun darum geht, dass die Erzählerin mit Frauen Schluss macht, sobald sie von Liebe sprechen, ihr sicheres Einkommen als Anwältin aufgibt, um zu schreiben, oder im Supermarkt klaut, »um der Schönheit der Geste willen«: Die sexuellen Beziehungen zu Frauen verhelfen ihr zu einer Transformation, die aus der Enge der gesellschaftlichen Erwartungen heraus ins Freie führt. »Homosexualität bedeutet für mich einfach Urlaub von allem. Ja, das ist: die großen Ferien, etwas, das so weit wie das Meer ist, ohne Horizont, nichts Abschließendes oder Definierendes.«

Heteropessimistische Praxis

Schlussmachen mit der Ehe, Homosexualität als große Ferien, prägnante literarisch-soziologische Autofiktionen à la Didier Eribon, Édouard Louis oder Annie Ernaux: Betrachten wir »Love Me Tender«, »Play Boy« und »Name« im Kontext aktueller Liebesdiskurse, dann wird klar, das Phänomen Debré steht für »radikale Handlungsfähigkeit« (»Die Zeit«) und stößt deshalb auf so große Resonanz im Literaturbetrieb. Debré geht in Sachen Liebe keine Kompromisse mehr ein. Leser*innen sprechen von Schonungslosigkeit und einem Sich-losmachen von Verpflichtungen, das sie beeindruckt. Die Fantasien von Unabhängigkeit, sowohl emotionaler als auch finanzieller, sind anziehend. Wer will nicht die Freiheit haben zu schreiben, zu schwimmen, zu ficken? Oder zumindest davon zu träumen? Hier zeigt sich Literatur als Möglichkeitsraum und als Ersatzbefriedigung.

Unbestreitbar spielt für die breite Rezeption von Debrés Büchern auch ihre öffentliche Persona eine Rolle: Aus einer skandalträchtigen Familie stammend, die Politiker, Ärzte, Juristen und Models hervorbrachte, macht Debrés literarische wie persönliche Transformation zur Butch – mit klassischem Look aus Lederjacke oder Nadelstreifenanzug – aus ihr ein Enfant Terrible der französischen Oberschicht. Das bedient Ausbruchsfantasien und provoziert. Aber Debré ist nicht nur im Mainstream, sondern vor allem auch in queer-feministischen Kreisen ein Hype, knüpft sie doch an die feministische Tradition an, mit der familiären und der ehelichen Liebe, diesen trojanischen Pferden des Patriarchats, endlich Schluss machen zu wollen.

Die Begeisterung über Debré ist dabei nur ein Anzeichen von vielen, dass der feministische Kampf gegen die und mit der heterosexuellen Liebe weitergeht, gar neue Formen annimmt. Seit 2019 kursiert etwa der Begriff Heteropessimismus in queer-feministischen Kreisen. Benannt wurde dieses Gefühl von Asa Seresin mit seinem gleichnamigen Aufsatz in dem Online Magazine »The New Inquiry«.

Heteropessimist*innen spüren »Bedauern, Scham und Hilflosigkeit« angesichts ihrer eigenen heterosexuellen Erfahrungen. Doch statt mit der Liebe Schluss zu machen, arrangieren sie sich mit Resignation. Die erlaubt es, Abstand vom eigenen Begehren zu nehmen, ohne den Status quo anzutasten. »Gemeinsam die Bedingungen von ›straight culture‹ zu verändern, fällt nicht in den Zuständigkeitsbereich von Heteropessimismus«, kritisiert daher Seresin. Etwas aktiver werden da schon Frauen*, die – zumindest phasenweise – Abstinenz gegenüber Hetero-Sex und Dating praktizieren. »Boysober« nennt die Comedian Hope Woddard eine Strategie, bei der es darum geht, sich auf sich selbst zu besinnen. Woddard betont allerdings, dass, wer »boysober« lebt, sich keineswegs von der heterosexuellen Liebe verabschiedet: »Ich liebe es, über die Liebe nachzudenken und darüber, wie man besser lieben kann.«

Jenseits der Paarbeziehung

Für die Schauspielerin Julia Fox hingegen, die schon seit mehr als zwei Jahren ihr Zölibat auf Social Media zur Schau stellt, führt kein Weg zurück in Partnerschaft oder sogar Ehe. Stattdessen zelebriert Fox Freund*innenschaften als Wahlfamilie. Damit denkt sie über Liebe offenbar ähnlich wie etwa Katja Kullmann, die in ihrem biografischen Sachbuch »Die singuläre Frau« (2022) Verbindung und Intimität nicht in der Kernfamilie, sondern in Freundschaft, Nachbarschaft und »Zufallszwischenmenschlichkeit« findet. Auch für Ole Liebl liegt in Freundschaften die Zukunft eines besseren Miteinanders, wie er in »Freunde lieben« (2024) beschreibt. Und Andrea Newerla läutet »Das Ende des Romantikdiktats« (2023) ein, um stattdessen für Formen von Nähe und Liebe außerhalb von Paarbeziehungen zu plädieren.

Wie werden Lieben und Geliebtwerden zu Erzählungen, die das Selbst einengen oder befreien?

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Alle diese Bücher spiegeln, was für manche schon Alltag, für andere noch Ideal ist: Familie jenseits von Partnerschaft, nach dem Modell der Ko-Elternschaft. Oder Beziehungen, die offen sind oder mehr als nur zwei Personen umfassen. Wie diese auf ethische Weise gelingen, sodass sich alle »polysecure« fühlen, erklärt der gleichnamige Ratgeber und Bestseller von Jessica Fern (2020). Alle diese unterschiedlichen Umgangsweisen mit Liebe haben gemeinsam, dass sie transformativ, aber auch integrativ sind: Statt nur die alte heterosexuelle Ehe abzuschaffen und gesellschaftliche Liebesnormen als Zwang und Illusion zu entlarven, wollen ihre Vertreter*innen eine andere, queer*feministische, eine empowernde Liebe. Eine Liebe, die Solidarität, Gleichheit und ein gutes Leben für alle schafft. Die Grundlage hierfür bilden Gefühle, und diese müssen – die angenehmen wie unangenehmen – reflektiert, benannt und kommuniziert, mit neuen Begriffen (erst) hervorgebracht und damit fühl- und mitteilbar werden. Kurz: Gefühle müssen bearbeitet werden, um zu transformieren und zu integrieren.

Mit dieser gezielten Gefühlsarbeit spiegelt der Queer-Feminismus einen allgemeineren gesellschaftlichen Trend der Emotionalisierung und Therapeutisierung wider und gestaltet ihn gleichzeitig von den Rändern gefühls-avantgardistisch mit. Hier entstehen soziologische Phänomene, die viele in ihrem Alltag bereits kennen: Therapie, Paartherapie, Emo-Runden und Awareness Teams, digitales Emo-Tracking, Diskussionen um Verletzlichkeit und Sensibilität, Achtsamkeitstagebücher, In-sich-hinein-Hören. Gefühle und ihre Bewertung als legitim oder illegitim sind Teil dieser Praktiken und oft Gradmesser für eine gelingende Beziehung. Die Beobachtung ist dabei nicht normativ gemeint: Es geht um die soziologische Feststellung, dass Gefühle stärker als früher zum Gegenstand explizierter Auseinandersetzungen werden, sie im Privaten wie Öffentlichen an Bedeutung gewinnen – ob das nun gut oder schlecht ist, lässt sich nicht vereindeutigen.

Urlaub von den Gefühlen?

Auch gemeinsamer Widerstand kann ein Liebesrausch sein. Teilnehmende des Internationalen Vietnamkongresses, Berlin 1968
Auch gemeinsamer Widerstand kann ein Liebesrausch sein. Teilnehmende des Internationalen Vietnamkongresses, Berlin 1968

Und Debré? Wie verhält sich der einsame Cowboy zur Achtsamkeit? Die Erzählerin der Roman-Trilogie jedenfalls tritt nicht aus der bürgerlichen Liebe aus, um irgendwo einzutreten. Das interessiere sie nicht, berichtet die Autorin auf einer Lesung, als sie nach der LGBTQIA+-Gemeinschaft gefragt wird. Sie bleibe lieber allein. In Debrés Trilogie ist die Liebe auf einer individuellen Ebene radikal transformativ, aber sie ist nicht integrativ. Was die anderen tun und lassen, ist der Erzählerin egal. Damit passen die Bücher so gar nicht in das politische Projekt, das uns sonst in der queer*feministischen (Ratgeber)literatur, im Aktivismus und in queeren Lebensrealitäten als Idealvorstellungen begegnet. Debrés Liebesskript zieht sich da heraus, es ist desintegrativ. Was sie selbst in »Love Me Tender« zugibt: »Ich trage keine Kämpfe aus, bin nicht Teil irgendeiner Community, bin ganz ohne Wahlverwandtschaften.« Und fügt hinzu: »Natürlich hätten wir Anarchie, wenn alle so leben würden wie ich« – wobei sie mit Anarchie scheinbar so etwas wie Chaos meint.

Wieso übt die Autorin dennoch solch eine Faszination auf die queer-feministische Community aus? Literatur muss hier eine andere Funktion haben, als Vorbild für das echte Leben zu sein. Denn das Leben von Debrés Erzählerin kann in dieser Konsequenz kein angestrebtes Ziel sein – es bleibt unerreichbar, zumindest für die meisten. Nur wenige können es sich leisten, einfach aus der Erwerbsarbeit auszusteigen, weil sie durch einen bekannten Namen und eine Ausbildung als Juristin abgesichert sind. Und wie soll eine Abkehr von solidarischen Modellen aussehen, wenn man, wie viele Frauen und Queers, Sorge- und Versorgungsarbeit leistet?

So wird der einsame Cowboy zur Kompensationsfigur. Schon für Debrés Erzählerin ist er einerseits eine Rolle, in die sie flüchtet, weil die Gesellschaft sie dafür bestraft, wie sie ihr Leben und Begehren gestaltet. Ihr Ex-Mann wirft ihr Pädophilie vor, das Rechtssystem schreitet ein und entzieht ihr vorläufig das Sorgerecht für ihren Sohn. Andererseits projiziert der Cowboy eine Art von Freiheit, die anziehend ist: frei von der Gefühlsduselei, Weichheit, dem Wunsch nach Familie und Romantik, die der Cowboy in typischer Macho-Manier bei (den anderen) Frauen verorten und sich dabei ganz auf sich und seine eigenen Bedürfnisse konzentrieren kann.

Radikale Ausstiegsfantasien

Debrés Erzählerin is not like other girls. Sie erteilt der Emotionsarbeit, den queer*feministischen Prozessen, durch die Liebe für alle gerechter werden soll, eine Absage. »Play Boy«, »Love Me Tender« und »Name« erzählen radikale Ausstiegsfantasien, nicht nur aus der Erwerbsarbeit, der Familie und der Ehe, sondern auch aus der Emotionsarbeit. Und das zieht. In Zeiten, in denen der autoritäre Kapitalismus immer unverblümter seine Zähne zeigt, schwindet die Kraft für die Arbeit mit und an den Gefühlen. Denn ja, auch die Auseinandersetzung mit Gefühlen ist eine Arbeit, sie kann ungleich verteilt sein und sie kann anstrengen, kann knapper werdende Ressourcen kosten wie Zeit und Energie.

Und so könnte das Phänomen Debré einen Überdruss mit den Liebespraktiken und -diskursen unserer Zeit markieren. Mit Debrés »cooler Intimität« (Illouz) kann man Kräfte sparen, die ansonsten für die Beziehungs- und Emotionsarbeit draufgehen würden und »Urlaub von den Gefühlen« machen – von seinen eigenen und und denen der anderen. Dass jemand einen liebt, geht vielleicht noch, aber selbst lieben ist schon zu anstrengend. Die radikale Besinnung auf sich selbst schafft Unabhängigkeit und damit Ruhe von den Anforderungen der emotional komplexen und unkontrollierbaren Situation, welche die zeitgenössische bürgerliche Liebe entstehen lässt. Damit macht Debrés kühler Cowboy Schluss. Wie es im letzten Satz von »Love Me Tender« heißt: »Es ist alles nicht so kompliziert.«

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