Überlastung und Gewalt: Berliner Kindernotdienst schlägt Alarm

Mit einem offenen Brief macht die Berliner Einrichtung erneut auf andauernde Überlastung aufmerksam: Schutz kann nicht gewährleistet werden

Hinter dieser Backsteinmauer sollten Kinder temporär Schutz finden. Doch die Einrichtung des Kindernotdienstes in Kreuzberg ist überlastet.
Hinter dieser Backsteinmauer sollten Kinder temporär Schutz finden. Doch die Einrichtung des Kindernotdienstes in Kreuzberg ist überlastet.

Kinder aus gefährlichen Situationen herauszuholen, so lautet der Auftrag des Kindernotdienstes. Rund um die Uhr soll die Stelle erreichbar und mobil sein, um Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt oder Vernachlässigung wurden oder deren Eltern plötzlich verstorben sind, kurzfristig in Obhut zu nehmen. In einem offenen Brief schlägt die Berliner Stelle jedoch Alarm: Die Lage in den Aufnahmestellen sei so schlimm, dass Kinder dort keinen Schutz fänden. Sie erführen dort sogar erneut Gewalt, heißt es. Der Kindernotdienst richtet sich deshalb mit dringenden Forderungen an seinen Arbeitgeber, die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie: Es brauche Sofortmaßnahmen wie mehr Personal, mehr Betten und eine bessere Koordinierung mit Akteur*innen der Jugendhilfe.

Im Kindernotdienst herrsche massive Überlastung, das betonen die Verfasser*innen des offenen Briefes. Eigentlich soll die Einrichtung in Kreuzberg mit insgesamt zehn Betten nur als Zwischenstation für maximal drei Nächte dienen, bevor die Null- bis 13-jährigen über die Jugendhilfe längerfristig untergebracht werden. Doch weil es an diesen Nachfolgeoptionen mangelt, bleiben insbesondere Kinder mit schwerwiegenden Problemen mehrere Monate. »Stellen Sie sich vor, sie lägen vier Monate im Gang der Rettungsstelle eines Krankenhauses, die Diagnose ist längst klar, aber die Ärztin sagt Ihnen: ›Sorry, es gibt keinen Platz auf Station‹«, beschreibt der Kindernotdienst die Lage.

Kinder, die so lange warten müssten, seien »zunehmend frustriert und verzweifelt«. Die Belastung führe zu selbstverletzendem Verhalten, manchmal schlage sie auch in Gewalt gegen andere Kinder und Mitarbeitende um. »Einige der Kinder bewaffnen sich mit spitzen Gegenständen oder Messern, um sich vor Übergriffen zu schützen oder selbst welche zu begehen.«

Mittlerweile sei das Haus auf einen Security-Dienst angewiesen, ständig müssten die Mitarbeitenden die Polizei oder den Rettungsdienst rufen. Sie könnten die Sicherheit ihrer Schutzbefohlenen nicht mehr gewährleisten, werden die Verfasser*innen deutlich: »Als im März dieses Jahres in Freudenberg ein zwölfjähriges Kind von zwei anderen Kindern getötet wurde, war die Fassungslosigkeit überall groß – auch bei uns im Kindernotdienst Berlin. Wir sagen an dieser Stelle in aller Deutlichkeit, dass dazu nicht mehr viel fehlt.«

Die Situation geht auch auf Kosten der Mitarbeitenden. In dem Brief ist von mehr als 1000 Überstunden die Rede, die die neun Betreuer*innen angesammelt hätten. Wegen häufiger Personalausfälle müssten Angestellte von der Beratungsstelle einspringen, die dadurch wiederum unterbesetzt sei. Laut Jugendverwaltung waren zwar Anfang 2023 von insgesamt 36 Stellen nur knapp drei offen. Doch der offene Brief legt nahe, dass der Bedarf damit bei weitem nicht gedeckt wird. Was die Dauer des Aufenthalts betrifft, gab die Verwaltung einen Durchschnitt von 7,5 Tagen im Jahr 2022 an. Marianna Burkert-Eulitz, familienpolitische Sprecher der Grünen im Abgeordnetenhaus, hält diese Zahl jedoch für irreführend. Darunter fielen nämlich auch einige Fälle, in denen Kinder nur wenige Stunden im Notdienst verbracht hätten, weil sie beispielsweise nicht aus der Kita abgeholt worden seien oder sich verlaufen hätten.

Vor der Veröffentlichung des Briefs wandte sich der Kindernotdienst bereits mehrfach mit Gefährdungsanzeigen an die Jugendverwaltung. Im März 2022 schilderte er eine gewaltvolle Atmosphäre in der Einrichtung, auch im Januar 2023 schickte der Notdienst einen Notruf. Seitdem wurden einige Maßnahmen ergriffen: So kündigte die SPD-geführte Verwaltung, damals noch unter Senatorin Astrid-Sabine Busse, mehr Geld an. Mittlerweile plant die schwarz-rote Regierung laut Koalitionsvertrag ein weiteres Haus mit vier bis sechs Notfallschlafplätzen. Das reiche jedoch nicht aus, sagt Burkert-Eulitz: »Man muss jetzt ganz schnell eine Alternative für diese Kindergruppe schaffen.« Die Kinder, die monatelang im Kindernotdienst bleiben, haben ihr zufolge »multiple Problemlagen« und sind meist schon aus anderen Einrichtungen geflogen. Dass sich keine Lösung für sie finde, liege vor allem an schlechter Koordination zwischen den zuständigen Stellen. »Wir haben zwar super Gesetze, aber man tut sich schwer, die in die Praxis umzusetzen und tatsächlich Angebote zu schaffen, die diese Kinder mit dramatischen Geschichten auffangen.« Dadurch setze sich bei den betroffenen Kindern irgendwann das Gefühl fest, dass niemand sie wolle, so Burkert-Eulitz.

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