Nato: Trostpflaster für Kiew

Die Verteidigungsminister der Nato hofierten Rüstungsbosse in Brüssel

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

In Brüssel berieten in dieser Woche die Verteidigungsminister des weltweit größten Militärbündnisses über die weitere Effektivierung der Abschreckung. Geht es nach dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, sollte die Nato seinem Land umgehend die Tore zur gleichberechtigten Mitgliedschaft öffnen. Das ist jedoch angesichts des Krieges, den die Ukraine nach dem Überfall Russlands vor rund eineinhalb Jahren führen muss, eine Illusion. Es würde nämlich die Allianz zur Kriegspartei machen. Vor allem die baltischen Staaten und Polen drängen darauf, Kiew zu versprechen, unmittelbar nach Kriegsende aufgenommen zu werden. Die USA, Deutschland und andere lehnen das ab.

Beim Versuch, ein guter Vermittler zu sein, erging sich Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bereits einen Tag vor dem Ministertreffen in Andeutungen. Er forderte, dass man vom Nato-Gipfel, der in vier Wochen in Vilnius stattfindet, nicht nur Botschaften der Solidarität senden solle: »Wir müssen klarmachen, dass die Zukunft der Ukraine in der Nato liegt.« Die Mitgliedschaft der Ukraine ist bereits seit dem Bukarester Nato-Gipfel 2008 beschlossene Sache. In Brüssel gab es daher ein »Trostpflaster« für Kiew: Die Aufwertung der bisherigen Nato-Ukraine-Kommission zu einem Nato-Ukraine-Rat.

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Die USA setzten in Brüssel andere Prioritäten. Man müsse sich darauf konzentrieren, wie die Ukraine derzeit und in Zukunft am effektivsten unterstützt werden könne, sagte Verteidigungsminister Lloyd Austin bei den Beratungen. Es gehe um mehr Interoperabilität der Systeme und eine bessere militärische Leistungsfähigkeit der Verbündeten und Partnerländer. Der Fokus liege dabei auf der Luftverteidigung, es gehe ebenso um Panzerabwehrsysteme, vor allem aber um die Herstellung von mehr Artilleriemunition. Bis heute hat Washington der Ukraine Waffen, Gerät und Munition im Wert von rund 40 Milliarden US-Dollar zugesagt. Die anderen Nato-Verbündeten sowie weitere Partner versprachen Verteidigungshilfen in Höhe von 27 Milliarden US-Dollar. Rechnet man die US-Hilfe im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, so belegen die USA auf der Geberliste nur Platz 13. Die meisten Luftabwehrsysteme, die Masse der 155-mm-Artilleriegeschosse, der Panzer und gepanzerten Mannschaftstransporter werden von Verbündeten und Partnern bereitgestellt. Zudem hätten diese dreimal so viele ukrainische Kämpfer ausgebildet wie die USA, bestätigt ein hoher Beamter aus Austins Umfeld.

Allerdings liegt der ukrainische Bedarf an Artilleriemunition und Ersatzteilen weit über dem westlichen Liefervermögen. Der Weltmarkt für die von der Ukraine genutzten Waffen aus Sowjetzeiten ist leergefegt. Für bereits gelieferte westliche Systeme kann nicht genug Nachschub produziert werden. Um diesen dennoch zu sichern und zugleich die Depots der Nato-Armeen aufzufüllen, hatte der Nato-Generalsekretär die Chefs von über 20 Rüstungsunternehmen eingeladen. Er versprach ihnen vor allem Planungssicherheit und regte eine weitere Standardisierung der Systeme an. Dafür setzt sich die Nato seit Jahren vergeblich ein. Unternehmen machen durch nicht kompatible Munition und Ersatzteile zusätzlichen Profit.

Dennoch: So ein Beispiel engster Verknüpfung von Militär und Wirtschaft gab es bislang noch nicht. Die Allianz rollte den Kriegsgewinnlern den roten Teppich aus. Lockhead Martin und Raytheon Technologies kamen aus den USA. Sie produzieren die Raketensysteme »Javelin«, »Himars« und »Patriot« sowie die Kiew bereits zugesagten F-16 Kampfjets. Auf der Einladungsliste standen der türkische Drohnenhersteller Baykar, Tekever aus Portugal und das britische Unternehmen BAE Systems. Mit dabei waren das rumänische Unternehmen Romarm, der kroatische Panzerhersteller Duro Dakovic, Milrem Robotics aus Estland, die belgische Thales-Gruppe und der FN-Konzern. Vertreter der französisch-italienischen MBDA waren da, aus Helsinki, Oslo und Rom kamen Vertreter von Patria, Nammo und Leonardo. Auch Rüstungsfirmen aus Bulgarien und der Tschechischen Republik erhoffen sich Aufträge.

Es wird erwartet, dass man in Brüssel demnächst einen speziellen Aktionsplan für Investitionen in die Verteidigungsindustrie ausarbeitet. Obwohl die Mehrheit der 31 Nato-Mitglieder ihr Versprechen, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für das Militär auszugeben, noch nicht erfüllt, will Stoltenberg noch mehr: Zwei Prozent des BIP sollten nicht mehr die Obergrenze, sondern »das Minimum sein für das, was wir in Zukunft für Verteidigung ausgeben müssen«. Deutschlands Abgesandter, Bundesminister der Verteidigung Boris Pistorius (SPD), wird das kurz überschlagen haben: Deutschland müsste danach den Verteidigungsetat um ein Viertel aufstocken. Das sind 17 Milliarden Euro zusätzlich – pro Jahr. Auch der Finanzbedarf der Nato selbst wächst. Von 2,6 Milliarden Euro im Vorjahr auf 3,32 Milliarden Euro. Das bedeutet für Deutschland, dass es seine Überweisungen von 446 Millionen im vergangenen Jahr auf 537 Millionen Euro erhöhen muss, ein Anstieg um gut 20 Prozent.

Für wie ernst die Nato die derzeitige Lage hält, zeigte sich bei einer weiteren Veranstaltung. Am Rande der Ministerkonferenz traf sich die Nukleare Planungsgruppe der Nato, um Antworten auf die atomaren Drohungen Russlands zu finden. Zugleich soll eine spezielle Einheit für den Schutz von Pipelines und anderer kritischer Infrastruktur in den Meeren entstehen. Unterstützung für dieses Projekt erzeugte der Vizechef des russischen nationalen Sicherheitsrats. Dimitri Medwedew regte zu Wochenmitte – als vermeintliche Vergeltung für die Sprengungen der Nord-Stream-Pipelines – die »Vernichtung« von Kabelverbindungen zwischen Europa und den USA an.

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